Was ein Bergsteiger im Himalaya wohl denkt, wenn er plötzlich einem Yeti gegenübersteht? Seit diesem Wochenende können viele Wintersportfreunde nachempfinden, wie sich eine solche Begegnung anfühlt. Der Besuch des 35. Europapokals der Senioren im Zweier-Bob in Innsbruck bot ein vergleichbares Erlebnis. An den Start ging nämlich eine Legende: der Opel-Bob mit dem Projektnamen „LP 13“, den Rüsselsheimer Ingenieure vor 35 Jahren für die Olympischen Winterspiele in Lake Placid konstruierten. Wo er dann aber doch nicht zum Einsatz kam – und zum Mythos wurde.
„Vor allem viele jüngere Sportfreunde haben gar nicht mehr so richtig daran geglaubt, dass dieser Flitzer tatsächlich existiert“, sagt der mehrfache Juniorenweltmeister und Europapokalsieger Peter Hinz. „Sie hielten es für eine Phantasie alter Bobveteranen.“ Jetzt ist jedem klar: Die Legende lebt – und ist immer noch verdammt schnell auf den Kufen.
Der 49-jährige Peter Hinz wusste freilich schon immer, dass der Bob mit dem Blitz kein Fabelwesen ist. In Berchtesgaden, in der Zentrale des Bob- und Schlittenverbandes für Deutschland (BSD), war nämlich einer der insgesamt sechs Bobs, die Opel damals baute, ausgestellt. Der Mann aus dem Odenwald ist selbst Bobkonstrukteur, daher faszinierte ihn das Gerät in besonderer Weise, und es einmal höchstpersönlich durch einen Eiskanal zu jagen, wurde für ihn zum Lebenstraum. Den er sich jetzt erfüllte.
Was den Opel-Bob so einzigartig macht? Die Frage müsste eher lauten: Was nicht?
AM ANFANG WAR PURE WINTERSPORTBEGEISTERUNG
Die Geschichte beginnt 1977. Zunächst bekommen Opel-Designer lediglich den Auftrag, Transportfahrzeuge und Bobs des Sportverbandes mit Sonderlackierungen und Beschriftungen zu versehen. Einige von ihnen sind echte Wintersportfans und beginnen, bei der Arbeit mit den Athleten zu fachsimpeln. Dabei reift die Idee, einen eigenen, vollkommen neuen Bob zu entwickeln. Als der Verband parallel eine entsprechende Ausschreibung startet, beteiligen sie sich kurzerhand und erhalten den Zuschlag.
Im Windkanal ermitteln die Opel-Ingenieure eine Idealform, konstruieren eine besonders schnittige Plexiglaskanzel über dem Cockpit, versehen die Kufen mit Federn und Dämpfung – was bis dato noch niemand getan hat –, erfinden eine für Bobs völlig neue „Knopf“-Lenkung und einen aufblasbaren Luftsack im Heck, der sich nach dem Hineinspringen des Bremsers mit Pressluft füllt.
LIVE FAST, DIE YOUNG: DAS KURZE LEBEN DES WUNDERBOBS
Nach ersten Tests in Königssee feiert die „Bild“ die Opel-Schöpfung bereits als „Wunderbob“. Der Vierer-Bob ist pro Lauf 0,65 Sekunden schneller als das Vorgängermodell, der Zweier 1,35 Sekunden. In der Weltspitze dieser Disziplin sind das Ewigkeiten. Schon damals entscheiden Hundertstel über Gold oder Blech. Allerdings: Um Wettbewerbsgleichheit zu gewährleisten, lässt der Verband bei der Qualifikation zu den Olympischen Spielen die Athleten nur in herkömmlichen Bobs fahren. Was bedeutet: Die Teams, die es 1980 nach Lake Placid schaffen, müssen sich mit den neuen Geräten erst mal vertraut machen. Dafür reicht die Zeit dann aber nicht, vor allem an die innovative Lenkung können sich die Fahrer nicht gewöhnen. „Zu riskant“, erklärt Vierer-Steuermann Georg Grossmann schließlich und zieht zurück.
„Diese Geräte waren ihrer Zeit weit voraus – zu weit, leider“, konstatierte auch eine lebende Boblegende, als er die Opel auf Kufen am Wochenende wiedersah: André Lange, vierfacher Goldmedaillengewinner.
EINFLÜSSE REICHEN BIS IN DIE HEUTIGE ZEIT
Wie sie die Szene seinerzeit inspirierten, belegt eine Episode, die Uwe Mertin, Leiter Opel Classic, in Erfahrung brachte: Auf dem Rückflug von Lake Placid wurde der Flieger mit Opel-Bobs „versehentlich“ nach Berlin-Schönefeld umgeleitet, so dass er sich für zwei Tage auf dem Territorium der ehemaligen DDR befand. Dahinter dürfte die Stasi gesteckt haben, die den Bobkonstrukteuren des Arbeiter- und Bauernstaates ermöglichen wollte, den Wunderbob einmal in Ruhe in Augenschein zu nehmen.
1983 wurde er dann endgültig aus dem Verkehr gezogen. Dass er den Bobbau bis in die heutige Zeit nachhaltig beeinflusste, ist unbestritten.
PLATZ 16 FÜR 49 JAHRE MENSCH UND 35 JAHRE SPORTGERÄT
Und Peter Hinz? Gemeinsam mit seinem Bremser Johann Jäger brannte er regelrecht darauf, dem Mythos wieder Leben zu einhauchen. Start in Innsbruck, das heißt: 1270 Meter Eiskanal, mit bis zu 120 km/h Geschwindigkeit durch 14 Kurven und einen Kreisel, wobei es 124 Meter bergab geht.
Wie sich zeigte, können 49 Jahre Mensch und 35 Jahre Sportgerät ein phantastisches Gespann bilden. Der Opel-Bob rauschte nach 55,36 Sekunden durchs Ziel, nur 2,13 Sekunden langsamer als der Sieger. Was, weil in der Disziplin nach wie vor Hundertstel entscheiden, am Ende Platz 16 bedeutete.
„Wettbewerbsfähig ist unser Bob also noch immer“, bilanziert Uwe Mertin. Was freilich nicht die Erkenntnis war, die ihn in Innsbruck am meisten freute. „Es war großartig zu sehen, wie viel Aufmerksamkeit der Opel auf Kufen erfuhr – sowohl von jungen Sportlern wie von alten Hasen.“ Kein Wunder: Glaubte doch so mancher, einen Yeti zu sehen.
Herr Hinz, wie fühlt man sich, wenn man sich gerade einen Lebenstraum erfüllt hat?
Einfach phantastisch. Einmal mit dem Opel-Bob zu fahren, war einer von zwei Lebensträumen, die ich mir innerhalb einer Woche erfüllen konnte. Acht Tage zuvor konnte ich mal in Garmisch auf einer echten Natureisbahn fahren. Auch das habe ich mir immer gewünscht.
Sie hatten nur fünf Trainingstrage zur Verfügung, um den Opel-Bob kennen zu lernen. Wär mit mehr Vorbereitung mehr drin gewesen?
Na klar. Man muss auch sehen: Vorne fehlte ein Anschubbügel, und auch das Fahrwerk war noch fast im Originalzustand von vor 35 Jahren. Hätten wir da noch mehr rausgekitzelt, wären wir noch zwei, drei Plätze weiter vorn gelandet.
War die erste Fahrt im Opel-Bob auch Ihre letzte?
Bestimmt nicht. Nächstes Jahr will ich wieder dabei sein. Ich musste allerdings schon zwei ehemaligen Olympiasiegern versprechen, dass ich sie auch mal damit fahren lasse. Hoffentlich komme ich dann auch noch selbst dazu.