Andere gehen in den Keller, um Vorräte zu holen. Oder die Waschmaschine anzustellen. Christoph Thiem steigt in den fensterlosen Raum hinab, um sich mit der Weltspitze zu messen. Was er dazu braucht, ist ein Laptop, ein Bildschirm, ein Fahrrad montiert auf eine Rolle und eine stabile Internetverbindung. Mit diesen Komponenten hat sich der Opel-Kollege aus dem Mainzer Untergrund heraus einen Namen gemacht – bei virtuellen Straßenradrennen unter professionellen Bedingungen.
Souverän gewann er die Bundesliga der German Cycling Academy (GCA), stieg in die höchste Klasse der „Premier Division“ auf. Am 26. Februar geht es zur Weltmeisterschaft nach New York. Im Deutschen Nationaltrikot des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR). Die virtuelle Rennstrecke der UCI Esports World Championships 2022 führt durch den Central Park. „Ergänzt um gläserne Brücken für ordentlich Steigung“, erzählt der Sportler, während er sich bei einer Trainingseinheit warm tritt.
„Radsport ist Teamsport. Man ist füreinander da, ist Teil eines Ganzen.“
DER WETTKAMPF
180 der weltbesten Radsport-eSportler gehen bei den UCI Esports World Championships 2022 an den Start. Gefahren werden 54,9 Kilometer, 944 Höhenmeter müssen erklommen werden. Der New Yorker Parcours ist eine Fantasiewelt, die dem Central Park von vor 100 Jahren nachempfunden ist. Es ist ein anspruchsvoller Kurs mit kaum einem flachen Asphaltabschnitt und einer Mischung aus hügeligem und steilem Gelände. Gläserne Rampen und Brücken sorgen für Steigungen von bis zu 17 Prozent. Ausgerichtet wird das virtuelle Rennen des Internationalen Radsport-Verbands von Zwift. Als bedingt durch die Pandemie Tausende von Rennen in der ganzen Welt abgesagt wurden, verlagerten sich Wettkämpfe auf die Indoor-Fitness-Plattform.
Das Starterfeld bei dieser Art virtueller Rennen ist hochklassig. Mit dem Beginn der weltweiten Pandemie im Frühjahr 2020 haben sich nicht nur ambitionierte Amateure ihre Rennräder in die eigenen vier Wände geholt, auch die Profis haben das Hinterrad abmontiert und gegen eine gegenläufige Rolle eingetauscht. Bei Thiems Trainingsläufen ist auch schon mal der Avatar des Weltklasse-Triathleten Jan Frodeno mit auf der Strecke, bei den UCI Esports World Championships am kommenden Wochenende gehört er zum Team des Olympioniken Jason Osborne. Der Silbermedaillen-Gewinner im Rudern (Leichtgewichts-Doppelzweier) bei den Sommerspielen in Tokio 2021 ist inzwischen als Profi zum Radsport gewechselt. Und Osborne geht in New York als Titelverteidiger an den Start. Mit der Unterstützung des Opel-Kollegen möchte er seinen zweiten eCycling-WM-Titel einfahren. Thiem: „Das ist vielen nicht so bewusst: Radsport ist immer Teamsport. Man ist füreinander da. Man ist Teil eines Ganzen.“
Von Rollski über Rudern zum Rad
Der Schweiß rinnt, der Anstieg zieht sich: „Den kriegste noch!“ feuert Thiem einen befreundeten Fahrer via Headset an. Die Nachbarn haben sich inzwischen daran gewöhnt. Wenn sie Wäsche aufhängen, dann wird im Raum nebenan gefightet. Jeden Abend. Zur Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft war der Mainzer außerdem eine Woche im Allgäu zum Langlaufen. Christoph Thiem, Jahrgang 1985, ist seit seiner Jugend Ausdauersportler, angefangen hat er mit Rollski, später war er erfolgreicher Ruderer im Nationalteam. Das Radfahren war eigentlich nur ein Ausgleichssport, doch inzwischen hat der 36-Jährige dem Wasser den Rücken gekehrt und ist vollends auf den Rennsattel umgestiegen. 2019 war beim Radklassiker Eschborn–Frankfurt erstmals bei einem Straßenrennen am Start und wurde prompt 20. Es folgten Bundesliga-Rennen und mit dem Beginn der Pandemie wurde die Passion schnell virtuell.
„eCycling ist echter Wettkampfsport unter fairen Bedingungen.“
Berührungsängste, virtuell auf die Strecke zu gehen, hatte der Opel-Ingenieur keine. „Die körperliche Anstrengung treibt die Avatare auf dem Bildschirm an – eCycling ist echter Wettkampfsport unter fairen Bedingungen“, erklärt er. Alle Fahrer haben die gleichen Smart-Trainer, die intelligent auf Veränderungen wie virtuelles Gefälle reagieren und Windschatten simulieren. Was Technologie leisten kann, das weiß er nur zu gut. Dr. Christoph Thiem – seine Promotion beschäftigte sich mit der Optimierung virtueller Entwicklungsmethoden – arbeitet in der Opel-Vorausentwicklung, Untergruppe Autonomes Fahren.
Training der Künstlichen Intelligenz
Das Opel-Team sorgt zusammen mit anderen Herstellern und Zulieferern dafür, dass Autonomes Fahren Wirklichkeit wird. Ein wichtiger Hebel dabei ist die Qualität der künstlichen Intelligenz (KI). Sie analysiert die Kamerabilder, steuert das Auto. „Ohne KI ist autonomes Fahren nicht möglich. Die Systeme lesen, berechnen und interpretieren umfassende Daten – und das gleichzeitig“, sagt Thiem. „Und wir trainieren quasi die KI-Systeme mit Datensätzen auf ein Ziel hin, etwa Straßenschilder zu erkennen.“ Oder Fußgänger. Und zwar hochpräzise. Thiem: „Die KI muss einen Fußgänger auch dann erkennen, wenn der als Giraffe kostümiert auf einem Einrad sitzt.“
25.000 km saß Christoph Thiem im vergangenen Jahr im Sattel.
Im Schnitt tritt er bei einem eCycling-Rennen 350 Watt – damit bringt man etwa 16 Energiesparlampen zum Leuchten.
Bremsen gibt es nicht, die sind beim eCycling deaktiviert.
Rennen live miterleben
Für das große Rennen bei den UCI Esports World Championships 2022 holt der Opel-Analyst sein Rennrad sogar aus dem Keller heraus. Zusammen mit Jason Osborne wird er am Samstag, den 26. Februar 2022, im Vereinsheim des Mainzer Rudervereins in die Pedale treten, um den höchst anspruchsvollen Kurs durch New York zu bezwingen. Er stellt sich ganz in den Dienst des amtierenden Weltmeisters: „Nur falls Jason meine Hilfe nicht benötigt, dann ist eine Platzierung rund um den 30 Platz möglich. Vielleicht, es ist schwer einzuschätzen.“ Wir drücken jedenfalls die Daumen!
Aktualisierung: Herzlichen Glückwunsch! Christoph Thiem fuhr als 23. über die Ziellinie, Jason Osborne holte sich bei der Esports-WM (26. 2.) die Bronzemedaille. Die Aufzeichnung des Rennens gibt es auf der YouTube-Plattform von Zwift.
Februar 2022