– Volker Strycek –
Herr Strycek, vor zwei Jahren wurde der Film „Le Mans 66“ ein Überraschungserfolg in den Kinos. Der Film erzählt ein Kapitel amerikanischer Motorsportgeschichte, Ford versus Ferrari, der Underdog setzt sich gegen die übermächtige Konkurrenz aus Europa durch – erinnert Sie das an was?
Oh ja, den Film habe ich gesehen. Wenn Motorsport derart packend inszeniert wird, schaue ich mir das natürlich an. Und wie der Ford GT40 den scheinbar übermächtigen Ferrari-Boliden die Stirn bot und sie letztlich übertrumpfte – das hat mich in der Tat an unsere legendäre Saison 1996 erinnert. Damals, als wir in der International Touring Car Championship (ITC) mit dem Gewinn der Marken- und der Fahrerwertung den größten Rundstreckenerfolg unserer Geschichte gefeiert haben – gegen bärenstarke Konkurrenz von Alfa Romeo und Mercedes.
Was ist ihre prägendste Erinnerung an diese Saison vor 25 Jahren?
Die unglaubliche Atmosphäre: Wenn die Calibra V6 4×4 beispielsweise bei den Rennen am Hockenheimring mit annähernd 300 Sachen ins vollbesetzte Motodrom eingefahren sind, das Publikum sich von seinen Sitzen erhob und applaudierte: Das war Emotion pur! Das sind Momente, die man nicht vergisst. Überhaupt unsere Fans damals, niemand hatte solche Fans wie Opel. Und dass wie im Hollywood-Epos „Le Mans 66“ am Ende drei Wagen der gleichen Marke als erste über die Ziellinie fahren – auch das haben wir in der Saison 1996 erlebt.
Formel 1 mit Dach
Die Saison 1996 bot Rennsport auf allerhöchstem Niveau: Aus der deutschen DTM war mit Segen des Automobilweltverbandes FIA die Internationale Tourenwagen-Meisterschaft ITC geworden.
Die Rennen fanden vom badischen Hockenheim bis ins brasilianische Sao Paulo statt. Das Fernsehen war immer live dabei, jeder Lauf ein Rausch für die Fans – mit prominenten Piloten und packenden Überholmanövern.
Am Saisonende feierte Opel mit dem Gewinn der Marken- und Fahrerwertung den größten Rundstreckenerfolg seiner Geschichte. Die Tourenwagen-Champions 1996 hießen Opel Calibra V6 4×4 und Manuel Reuter.
Bei welchem Rennen war das?
In Helsinki, am 9. Juni. Es war das vierte Rennen der ITC, der erste von zwei Läufen an diesem Tag. Als Erster rauschte Hans-Joachim Stuck an der Zielflagge vorbei, dann Manuel Reuter, schließlich Klaus Ludwig. Alle drei im Calibra V6 4×4. Es war nicht unser erster Sieg in dieser Saison, Manuel Reuter hatte mit seinem „Cliff“-Calibra bereits auf dem Nürburgring und auf dem Hockenheimring gewonnen. Und auch nicht der letzte. Aber einer der besten. Besonders die Nacht vor dem Dreifach-Erfolg wird mir immer in Erinnerung bleiben.
Was war da?
Manuel Reuter hatte seinen Calibra im Training an eine Mauer gesetzt. Wir hatten eine Nacht lang Zeit, den Wagen nahezu komplett neu aufzubauen, damit er zum Rennen antreten konnte. Das war eine riesige Teamleistung. Glücklicherweise hatten wir nicht unbedingt das Gefühl, die Nacht durcharbeiten zu müssen. Es war Juni, da wird es in Helsinki, so weit oben im Norden, nicht dunkel.
Spontaner Einsatz: Auf dem Mugello Circuit in Italien hat Volker Strycek Klaus Ludwig vom Zakspeed-Team vertreten.
„Überhaupt die Fans – niemand hatte so enthusiastische Fans wie Opel.“
Sie waren als ITC-Projektleiter an allen 13 Rennwochenenden dabei, waren und sind aber auch selbst leidenschaftlicher Racer. Haben Sie darunter gelitten, nicht auch mal selbst am Steuer sitzen zu können?
Ich habe ja nahezu alle Testfahrten mit den Rennmaschinen gemacht, insofern bin ich schon auf meine Kosten gekommen. Und zwei Mal war ich selbst am Start, beide Male ganz spontan. Vor dem zweiten Rennwochenende auf dem Nürburgring kam Wolfgang-Peter Flohr (damaliger Opel-Motorsportchef, Anmerkung d. Redaktion) zu mir und sagte: ‚Strycek, du fährst, für die Fans und für uns.‘ Und auf dem Mugello Circuit in Italien musste ich kurzfristig im Zakspeed-Team Klaus Ludwig vertreten, der erkrankt war. Das waren tolle Erlebnisse – und ein Dankeschön für die ungezählten Entwicklungstests, die ich gefahren bin.
Wie kam es, dass der Calibra V6 4×4 die ITC 1996 derart beherrschte? In den Jahren zuvor fuhr er hauptsächlich unter „ferner liefen“…
Wir hatten die beiden Saisons zuvor genutzt, um Erfahrungen und Erkenntnisse zu sammeln und das Fahrzeug nach und nach zu perfektionieren. 1996 was es dann soweit. Wir ernteten die Früchte der Arbeit, die 1993 begonnen hatte.
Hightech-Coupé in Schwarz-weiß: In der internationalen Serie waren für Opel die Werksteams Joest (Foto), Rosberg und Zakspeed am Start.
Die Basis aus der Großserie: Der Calibra Turbo 4×4 mit 2,0-Liter-16V-Motor – zu erkennen am Doppelrohr-Auspuff und den 16-Zöllern, in denen eine Senator B-Bremse waltet. 204 PS müssen eingefangen werden, in der Spitze bringt er es auf 245 km/h.
Vor der Saison 1993 war das DTM-Reglement geändert worden, die so genannte Class 1 kam zum Einsatz…
Genau, dadurch konnten wir uns bei der Entwicklung unserer Rennversionen wesentlich weiter von unseren Serienmodellen entfernen, als es zuvor der Fall war. Wir entschlossen uns, anstelle des Omega den Calibra zum DTM-Fahrzeug zu machen. Vom Serienmodell übernahmen wir die Karosserie und veränderten diese nur leicht. Darunter bauten wir eine komplett neue Rennmaschine auf.
Können Sie uns dieses Innenleben einmal kurz beschreiben?
Das Herzstück bildete das 500 PS starke 2,5 Liter-Triebwerk auf Basis des Serienmotors aus dem Opel Monterey, das aus der edlen britischen Motorenschmiede Cosworth Engineering stammte. Indem wir den Bankwinkel von 54 auf 75 Grad veränderten, machten wir ihn breiter, sorgten so für einen niedrigeren Schwerpunkt und bessere Straßenlage, alle anderen Bauteile passten wir entsprechend an, auch den Antriebsstrang gestalteten wir neu. Die Sechsgang-Halbautomatik funktionierte hydraulisch, der Fahrer bediente sie per Schaltwippe oder per Knopfdruck am Lenkrad, das ermöglichte schnellere Gangwechsel. Ein weiteres Hydrauliksystem variierte die Drücke in den Differentialsperren mit Computerunterstützung. Und wir verbesserten die Windschlüpfrigkeit.
Zur Person
Volker Strycek fungierte 1996 als ITC-Projektleiter. Im darauffolgenden Jahr sollte er Wolfgang-Peter Flohr als Opel-Motorsportchef beerben, später Direktor des Opel Performance Centers (OPC) werden – und noch etliche Aufgaben mehr wahrnehmen. Und dabei dennoch immer selbst ein „Racer“ bleiben. Unter anderem feierte Volker Strycek über 130 Klassensiege in der Rennserie der Veranstaltergemeinschaft Langstreckenmeisterschaft Nürburgring (VLN). Seinen ersten DTM-Titel gewann er bereits 1984, seinen nach seinem Empfinden schönsten beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring 2003, gemeinsam mit Manuel Reuter, Timo Schneider und Marcel Tiemann in einem Astra V8 Coupé.
Vergangenes Jahr trat Volker Strycek als OPC-Chef offiziell seinen „vorgezogenen Ruhestand“ an, doch eine solche Bezeichnung mag für einen wie ihn so gar nicht passen. Verpflichtungen wie die des Sportpräsidenten des Automobilclubs von Deutschland (AvD) oder des Technik-Leiters der VLN-Rennserie nimmt er auch weiterhin wahr, und seinen Opel-Kollegen steht er nach wie vor mit Rat und Tat zur Seite. Die Opel POST erreichte ihn auch nicht in seinem Zuhause in Runkel-Dehrn, sondern in seinem Rüsselsheimer Büro.
Welche Stellschrauben haben Sie genutzt? Der Serien-Calibra war doch bereits „cw-Weltmeister“….
Zu Saisonbeginn 1996 verbesserten wir die Aerodynamik gegenüber der Rennversion von 1995 noch einmal um 28 Prozent. Das schafften wir vor allem mit einem perfekt glattflächig gestalteten Unterboden. Der große Diffusor am Heck erhöhte die Geschwindigkeit der Luftströmung unter dem Auto. Um das feinzutunen, benötigten wir über 200 Windkanalstunden im Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren Stuttgart. Im Institut erinnert übrigens noch heute ein Calibra-Modell im Maßstab 1:5 an unsere Versuche damals.
Bei so viel Entwicklungsaufwand wundert es nicht, dass man die ITC damals auch die „Formel 1 mit Dach“ nannte…
Ich würde sogar behaupten, was Technik, Elektronik und Steuerelemente anging, waren wir damals weiter als die Formel 1. Unser innovativer Spirit hatte allerdings seinen Preis, wie nicht nur wir, sondern auch unsere Wettbewerber bald feststellten. Diese ITC war einfach ein zu kostspieliges Vergnügen. Daher wurde sie bereits nach unsere Erfolgssaison 1996 eingestellt.
Dreifach-Triumph in Helsinki: Manuel Reuter, Hans Joachim Stuck und Klaus Ludwig machen den Lauf perfekt.
„Besonders die Nacht vor dem Dreifach-Erfolg wird mir immer in Erinnerung bleiben.“
Legendär: Manuel Reuter mit dem Opel Calibra V6 auf dem Hockenheimring. Ebenfalls unvergessen – die Standing Ovations im Motodrom.
„Was Technik, Elektronik und Steuerelemente anging, waren wir damals weiter als die Formel 1.“
Und der Calibra V6 4×4 war Geschichte.
Nicht ganz. 1999, zum 100. Geburtstag des Opel-Automobilbaus, bin ich mit ihm noch einmal beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring angetreten, auf der Nordschleife, für vier Stunden und 40 Runden. Dabei nahm ich der favorisierten Zakspeed-Viper pro Runde rund fünf Sekunden ab. Der Calibra V6 4×4 genügte also auch damals noch höchsten Ansprüchen.
Und wie würde sich dieser Calibra heute in der DTM behaupten?
Gegen die letztjährigen 600 PS-Class1-Boliden könnte er vielleicht nicht mehr gewinnen, aber im Vergleich zu den diesjährigen GT3-Fahrzeugen würde er sich gut behaupten. Vermutlich sehr gut sogar. In gewisser Weise war unser Calibra damals seiner Zeit weit voraus. Und er steht für ein Kapitel deutscher Motorsportgeschichte. Ein Kapitel, das – wie ich finde – durchaus auch einen Spielfilm wert wäre.
April 2021