Teil 1: Die Vorgeschichte
Es mutet an wie eine Szene aus Hollywoods „Schwarzer Serie“: Zwei schwere, schwarze Limousinen parken im Halbdunkel vor einem mysteriösen Haus im Wald. Ein konspiratives nächtliches Treffen von Unterweltgrößen? Die Fotografen und Redakteure der Tageszeitung „Die Rheinpfalz“ schauen genau hin: Die Autos auf dem Bild sind keine amerikanischen Gangsterschlitten, sondern ein Opel Kapitän und ein Mercedes 220. Und sie tragen deutsche Nummernschilder, eines mit „GG“ und eines mit „KL“.
Es ist der 15. Oktober 1964. Kein Jahr großer Schlagzeilen, auch wenn es in Vietnam und Palästina bereits kriselt. In Deutschland heißt das Motto weiterhin „Wohlstand für alle“, geprägt hat es Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaftswunders, der ein Jahr zuvor Konrad Adenauer als Bundeskanzler abgelöst hat. In dem anderen deutschen Staat hat ein Auto namens „Trabant“ gerade Premiere gefeiert. Willy Brandt ist zum SPD-Vorsitzenden gewählt worden, die Bundestrainerlegende Sepp Herberger hat ihren Ruhestand angetreten. In der Sowjetunion ist am Tag zuvor Nikita Chruschtschow entmachtet worden – doch mit Auswüchsen des „Kalten Krieges“ hat das merkwürdige Foto, das an diesem Tag in der „Rheinpfalz“ erscheint, nichts zu tun?
ALS KAPITÄN UND MERCEDES
SICH „GUTEN ABEND“ SAGTEN
Natürlich nicht. „Mit Opel in der Zielgeraden?“ fragen die Redakteure in der Artikel-Überschrift unter dem Bild. Die Zeitungsleute haben nämlich herausgefunden, dass der auf dem Foto abgebildete Kapitän einem Vorstandsmitglied der Adam Opel AG gehört, der Mercedes hingegen einem Lauterer Rechtsanwalt, „der sich auch mit Industriefragen befasst“. Daraus schließen sie: Hier, „irgendwo im Pfälzer Wald“ – konkret handelt es sich um das Kurhaus „Braband“ in Johanniskreuz – ging es hinter verschlossenen Türen um „für Kaiserslautern wesentliche Dinge“.
Um welche genau, ist ein Geheimnis, das fast schon keins mehr ist: Schon seit Monaten wird gemutmaßt, dass Kaiserslautern, das selbst ernannte „Herz der Pfalz“, Opel-Standort werden soll. Die Stadtoberen jedoch haben dies nicht bestätigt, haben zunächst dementiert, dann von einer „Möglichkeit“ gesprochen, schließlich „berechtigte Zukunftshoffnungen“ geäußert. Nach diesem Treffen und der Veröffentlichung dieses Bildes zweifelt jedoch niemand mehr: Da wird konkret verhandelt. Der „Rechtsanwalt, der sich mit Industriefragen befasst“, ist schnell identifiziert: Er heißt Dr. Rainer Langguth. Und zu dem Treffen begleitet hat ihn sein Freund und Sozius Dr. Hans Jung, seines Zeichens Erster Beigeordneter, Baudezernent und künftiger Oberbürgermeister der Stadt Kaiserslautern.
KAISERSLAUTERN BRAUCHT INDUSTRIE –
UND ANGELT SICH EINEN DICKEN FISCH
Außerdem ist allgemein bekannt, dass Opel Baugelände sucht. Und in Kaiserslautern, zwischen Vogelweh und Einsiedlerhof, ist schon vor fünf Jahren ein geeignetes Gelände ausgewiesen worden. Der Stadtrat hat eine „Empfehlung“ für die Ansiedlung mittlerer und großer Betriebe ausgesprochen – Folge geleistet hat dieser bislang freilich noch niemand. In unmittelbarer Nachbarschaft hat der US-Militärflughafen in Ramstein viele Arbeitsplätze geschaffen. Von den Wirtschaftswunderjahren allerdings hat Kaiserslautern bislang kaum profitiert, ist auf dem Weg zur Großstadt einfach stehengeblieben.
Opel dagegen präsentiert sich Anfang der 1960er Jahre als deutsches Vorzeigeunternehmen nach Ludwig Erhards Geschmack. Von 1962 auf 1963 hat die Marke seine Verkaufszahlen mal eben verdoppelt, auf weit über eine halbe Million Fahrzeuge pro Jahr. Einen großen Anteil daran trägt vor allem der neue Opel Kadett, der die Hitlisten im Sturm erobert hat. Aber auch Rekord, Admiral, Kapitän und Diplomat sind Flaggschiffe ihrer Klassen. Der Kadett wird seit 1961 in Bochum gebaut. Das Werk ist zuvor in gerade mal elf Monaten errichtet worden, einem Tempo, das bei einem Projekt dieser Größenordnung bislang als unvorstellbar galt. Und das insgesamt 285 Unternehmen des Baugewerbes, die fast alle aus dem Ruhrgebiet stammten, lukrative Aufträge bescherte. Verständlich, dass angesichts der aktuell aufkeimenden Gerüchte nicht nur Lauterns Stadtväter elektrisiert sind.
AM 22. DEZEMBER 1964 IST ES OFFIZIELL:
OPEL INVESTIERT 150 MILLIONEN
Mit der Veröffentlichung des Limousinen-Fotos am 15. Oktober 1964 erreicht die Spannung nun ihren Höhepunkt. Schon einen Tag später meldet eine Nachrichtenagentur, die Verhandlungen zwischen Opel und der Stadt Kaiserslautern wären bei dem Geheimtreffen in Johanniskreuz ins Stocken geraten, was der amtierende Oberbürgermeister Dr. Walter Sommer direkt dementiert.
Offiziell wird es jedoch erst am 22. Dezember 1964: Opel kommt in die Pfalz. Der Ansiedlungsvertrag wird unterzeichnet. Die Rüsselsheimer kaufen sogar mehr als doppelt soviel Fläche, wie zur Nutzung ausgewiesen war. Um dies kurzfristig noch zu ermöglichen, haben Dr. Hans Jung und seine Helfer in den vergangenen Wochen ihre Drähte zur Landesregierung in Mainz und zu amerikanischen Militärbehörden glühen lassen, um die fehlenden Parzellen zu erwerben – was die Zurückhaltung, die sich die Politiker bis dato auferlegt hatten, im nachhinein einleuchtend erklärt.
HAPPY END NACH 70 TREFFEN –
JOHANNISKREUZ WAR ENTSCHEIDEND
150 Millionen Mark wird Opel in Kaiserslautern investieren – zunächst. Kein Wunder, dass die Medien die Vertragsunterzeichnung als „vorgezogenes Weihnachtsgeschenk“ bezeichnen. ,,Dies war für Kaiserslautern die wichtigste Entscheidung der letzten 100 Jahre“, gibt Stadtoberhaupt Walter Sommer zu Protokoll.
Wie Dr. Hans Jung später verrät, hatten sich Vertreter von Opel und Stadt in den Monaten zuvor rund 70 Mal getroffen, um den Deal vorzubereiten. Und das Treffen, an dem die mysteriöse Nachtaufnahme entstand, war in der Tat ein ganz besonderes. An diesem Abend teilte Opel-Vorstand Dr. Jürgen Riehemann den Lauterer Unterhändlern mit, dass er und seine Vorstandskollegen sich nun endgültig für eine Werksansiedlung in Kaiserslautern entschieden hätten.
„Opel ist ein Teil von uns“
– von Dr. Hans Jung –
Er galt als Wegbereiter der Opel-Ansiedlung in Kaiserslautern: Dr. Hans Jung (1930 – 2012). Von 1967 bis 1979 lenkte der gelernte Rechtsanwalt als Oberbürgermeister die Geschicke seiner Stadt, in den Jahren zuvor ebnete er als Erster Beigeordneter und Baudezernent den Weg des Rüsselsheimer Unternehmens in die Pfalz. Diesen Essay schrieb er 2005 für die Opel-Mitarbeiterzeitung „KL aktuell.“
„Opel und Kaiserslautern – da werden bei mir viele Erinnerungen wach. Mitte der 60er Jahre war ich noch Beigeordneter der Stadt Kaiserslautern. Wir waren damals mit der Entwicklung unserer Stadt gar nicht zufrieden. Es fehlte an Infrastruktur, vor allem aber an langfristigen Arbeitsplätzen. Daran, dass die Streitkräfte auf dem Militärflughafen in Ramstein für dauerhafte Beschäftigung in der Region sorgen würden, glaubten wir damals nicht so recht, sollten uns diesbezüglich aber irren, glücklicherweise.
Leider haben wir dafür in den vergangenen Jahren andere Arbeitgeber, auf die wir unsere Hoffnungen gesetzt hatten, verloren.
Aus Rüsselsheim hörten wir, dass Opel Baugelände suchte – und witterten prompt unsere Chance. Doch wie macht man in an gemessener Form auf sich aufmerksam? Es war nicht, ratsam, auf der Opel-Vorstandsetage gleich in offizieller Funktion mit der Tür ins Haus zu fallen. Daher übernahm mein alter Schulfreund Dr. Rainer Langguth die Aufgabe, erst einmal über private Kontakte „vorzufühlen“.
Bald darauf trafen wir das Opel-Vorstandmitglied Dr. Jürgen Riehemann zu ersten Geheimverhandlungen. Zunächst ging es nur um eine Versuchsstrecke, dann um ein komplettes neues Werk mit Expansionsmöglichkeiten. Vorübergehend sah es so aus, als ob Opel eher zu einem Grundstück im Saarland oder im Elsaß tendierte, doch schließlich brachten wir die Sache unter Dach und Fach – auch mit Segen von Stadtrat und Landesregierung.
Es gäbe aus dieser Zeit viele Geschichten zu erzählen. Etwa, wie die US-Militärs von der Stadt Kaiserslautern eine Zusicherung verlangten, sämtliche Schadensansprüche von Opel zu übernehmen, für den Fall, dass ein amerikanisches Flugzeug aufs Werk stürzt. Ich war eine ganze Nacht damit beschäftigt, sie zu überzeugen, dass dies unmöglich von uns verlangt werden konnte.
Oder, wie wir die heimische Industrie auf unsere Seite ziehen mussten. Nicht, dass sie generell gegen eine Ansiedlung von Opel gewesen wäre. Aber die einheimischen Unternehmen forderten von uns, dafür Sorge zu tragen, dass Opel keine höheren Löhne zahlt als sie selbst. Auch das konnten wir natürlich
nicht. Wir appellierten an sie, doch mal über eigenen Tellerrand hinaus zu schauen – und hatten damit schließlich Erfolg.
Der ja auch bald in der ganzen Region sichtbar wurde. Ich weiß nicht, ob jemals ein großes Hotel in Kaiserslautern gebaut worden wäre, wäre Opel nicht gekommen. Außerdem brauchte die neue Belegschaft Wohnungen und Häuser, wofür unser Baugewerbe höchst dankbar war. So entstand beispielsweise das Wohngebiet auf dem Betzenberg mit seiner kompletten Infrastruktur. Außerdem hatte die Opel-Ansiedlung eine Sogwirkung auf etliche mittelständische Unternehmen, die in der Pfalz bislang immer nur ein riesiges US-Militärdepot gesehen hatten. Das änderte sich nun.
Am wichtigsten ist mir jedoch festzuhalten: Über Opel fanden immer hoch motivierte junge Leute den Weg nach Kaiserslautern. Und natürlich ist mir auch mein langjähriger Dienstwagen unvergessen – ein pechschwarzer Opel Diplomat.“