Wenn man genau hinschaut, erkennt man hier und da noch Betonreste zwischen den Sträuchern, die Steilwände sind von Moos überwuchert und Baumstämme sind dutzendfach durch deren Betondecke gewachsen. Heute ist kaum mehr vorstellbar, dass das unscheinbare Waldstück zwischen Rüsselsheim und Trebur vor einem Jahrhundert ein Besuchermagnet für zehntausende Motorsportbegeisterte gewesen ist: Das Gelände war Heimat der 1920 eröffneten „Opel-Renn- und Versuchsbahn“, die erste fest gebaute Rennstrecke auf dem europäischen Kontinent – Jahre bevor der Nürburgring, die AVUS in Berlin oder der Hockenheimring ihren Betrieb aufnahmen.
Die zwölf Meter breite Fahrbahn mit ihren beiden bis zu 32 Grad steilen Kurven erlaubte maximale Geschwindigkeiten von bis zu 140 km/h. Wann genau die allerersten Rennfahrer auf der 1,5 Kilometer langen asymmetrischen Ellipse an den Start gingen, lässt sich nur schwer belegen. Eindeutig dokumentiert ist jedoch das „1. Wiesbadener Automobil-Turnier“, das am 21. und 22. Mai 1921 stattfand.
Einmalige Einblicke in eine längst vergangene Zeit: Acht Monate Arbeit sind bislang in die Simulation geflossen.
Das Video lädt zu einem nie da gewesenen Ausflug in die Vergangenheit ein – von der detailreichen Darstellung der Strecke, der Tribünen und Zuschauer bis hin zur Ansicht aus dem Cockpit des Rennfahrers.
„Es hat mich gereizt, diese geschichtlich bedeutsame Bahn wieder zu erwecken.“
Thomas Lächele
Das Oval wieder erleben
Zum runden Jubiläum, exakt 100 Jahre später, erwacht nun die Opelbahn zu neuem Leben – zumindest virtuell. Mit detailverliebten Darstellungen der Tribünen, der Zuschauer und natürlich dem Oval selbst, kann man die Strecke erstmalig wieder in ihrer ursprünglichen Form und sogar in Aktion erleben – dank eines Videos, basierend auf einer virtuellen Rennsimulation. Zu verdanken ist das zwei Enthusiasten, deren Wege sich zufällig kreuzten. Der eine ist Thomas Lächele aus Oberbayern. Seine Profession ist es, historische Rennstrecken virtuell zu kreieren.
Der andere ist Carsten Ritter aus Groß-Gerau, Mitglied der „Initiative Kulturdenkmal Opel-Rennbahn“. Als Carsten Ritter im Spätsommer 2020 im Internet zufällig auf eine erste Testversion der Opel-Rennbahn von Thomas Lächele stieß, sollte das der Beginn einer Kooperation sein, die eine so detailgetreue Simulation des Ovals nach sich zog, dass Bilder und Szenen entstanden, die einen glauben lassen, man sei zurück in der Zeit der Goldenen Zwanziger.
Gaming-Trend: „Sim-Racer“ wie Thomas Lächele sind auf der Suche nach dem realistischsten Rennerlebnis in der virtuellen Welt.
„Hot Spot“ der Motorsportwelt: Die Simulation vermittelt einen unvergleichbaren Eindruck davon, wie es damals gewesen sein muss.
Nachtmodus in Arbeit: Die Lichtstärke muss noch angepasst werden, die Position der Scheinwerfer stimmt bereits.
Rennsimulationen
sind äußerst beliebt
Seit 15 Jahren ist Thomas Lächele als Nutzer von Rennsimulationen, auch „Sim-Racer“ genannt, auf der Suche nach dem realistischsten Rennerlebnis in der virtuellen Welt. Damit gehört er zu einer stark wachsenden Community, Sim-Racing gilt im Gaming-Bereich als der Trend der Stunde. Die Nummer 1 in Sachen Rennsimulationen heißt „Assetto Corsa“. Das Besondere daran: Die Simulation ist editierbar, das heißt, Spieler können Strecken und Fahrzeuge virtuell entstehen lassen und allen Nutzern zur Verfügung stellen. Der 37-jährige Oberbayer hat bereits Strecken wie den historischen Kurs des Hockenheimrings perfektioniert. „Meine Spezialität sind eigentlich die Oberflächenstrukturen“, erzählt er im Telefonat.
Als er im vergangenen Sommer im Internet einige wenige Bilder der Opelbahn findet, beschließt er, sich erstmals an eine komplett eigene Simulation zu wagen, „um das geschichtlich bedeutsame und in Vergessenheit geratene Oval zum Leben zu erwecken“, schildert er. Auf Basis der recherchierten Bilder baut er eine erste Version. Von Oberbayern aus sind seine Recherchemöglichkeiten schnell erschöpft. „Als mich Herr Ritter kontaktierte, war das ein echter Glücksfall“, so der Mediengestalter.
Luftaufnahme von 1928: Schutzplanken, Kiesbett oder Auslaufzonen – wie bei modernen Rennstrecken üblich – sucht man hier vergebens.
Die erste Rennstrecke auf dem Kontinent: Die Opelbahn ging Jahre vor Nürburgring, AVUS oder Hockenheimring in Betrieb.
„Angetrieben von der Aussicht, die Opelbahn auferstehen zu lassen, habe ich meine Recherchen intensiviert.“
Carsten Ritter
So können Sie die Opelbahn als Simulation selbst erleben
Die zugrunde liegende Rennsimulation „Assetto Corsa“ muss man einmalig kaufen (19,99 Euro). Alle weiteren Features und Downloads sind kostenlos. So läuft die Rennsimulation auf der Spieleplattform Steam. Die Simulation der Opelbahn wiederum kann man nach Anmeldung bei Racedepartment kostenlos herunterladen. Über Zusatzprogramme lassen sich außerdem spezielle Features wie Lichter bei Nacht oder zum Beispiel Jahreszeiten in die Simulation hinzufügen.
Mit viele Liebe zum Detail
Und so werden seit September 2020 regelmäßig E-Mails mit dem Betreff „Opel-Rennbahn – neue Details“ zwischen Groß-Gerau und Mühldorf am Inn hin und her geschickt. Carsten Ritter ist als Mitglied der Opel-Rennbahn-Initiative ohnehin ein wahrer Kenner. „Angetrieben von der Aussicht, die Bahn derart detailgetreu auferstehen lassen zu können, habe ich meine Recherchen nochmals intensiviert“, berichtet der 49-Jährige. Er ist regelmäßig in dem Waldstück zwischen Rüsselsheim und Trebur vor Ort, vermisst, fotografiert und dokumentiert die noch vorhandenen Betonbahnstücke und gibt seine Erkenntnisse an den 3D-Spezialisten gut 450 Kilometer südlich weiter.
„Opel hat echte Pionierarbeit geleistet“, führt Ritter aus. Die Bahn bestehe ausschließlich aus Kurvensegmenten und besitze keine einzige Gerade. „Jedes einzelne Betonelement der Bahn wurde individuell mit Hilfe einer Schablone hergestellt und der Beton in einer speziellen Nass-in-Nass-Technik eingebracht“, erklärt Ritter. Aus hunderten Betonteilen entstand so die einmalige Streckenführung. „Schon am Rechner war es knifflig die Radien nachzuempfinden. Wie man das seinerzeit in der Realität gemacht hat, ist mir nach wie vor ein Rätsel“, kommentiert Thomas Lächele die Leistung.
Hilfe auch vom Opel-Archiv
Die beiden Protagonisten ergänzen sich perfekt, stacheln sich zu Höchstleistungen an. Ein Beispiel: Als Carsten Ritter weitere Details zur Beleuchtung des ersten 24 Stunden-Motorradrennens der Welt, das auf der Opelbahn stattfand, ausgräbt, beginnt Thomas Lächele, die nächtliche Szenerie auf dem Beton zu simulieren. Und so wird jedes Detail der Rennsimulation – von der Bandenwerbung bis hin zur Höhe des Betonzaunes am Streckenrand – nach und nach feinjustiert und auf den Zentimeter genau simuliert. Lächele: „Ich habe so viele Detailinformationen erhalten, an die ich ohne die Hilfe der Initiative, aber auch des Opel-Archivs, niemals gekommen wäre.“
So sei auch der Prozess des Streckennachbaus bislang noch nicht abgeschlossen, erklärt der passionierte 3D-Modelleur. „Mit vielen neuen Fotovorlagen treten weitere Details zu Tage, die einer Nachjustierung bedürfen“, betont er. Daher ist die aktuelle bei „Assetto Corsa“ veröffentlichte Version, in die bereits acht Monate Arbeit geflossen sind, auch noch nicht die finale. Doch bereits diese Fassung vermittelt einen unvergleichbaren Eindruck davon, wie es damals gewesen sein muss, als tausende Zuschauer an den heute bewaldeten Ort zwischen Rüsselsheim und Trebur strömten, um ihre Rennidole zu sehen.
Zwischenstand: Dieser Screenshot aus dem 3D-Programm zeigt die Simulation ohne Texturen, die in einem weiteren Schritt hinzugefügt werden.
Werbewirksam: 1925 ließ Opel eine Tagesproduktion des „Laubfroschs“ begleitet von der Kapelle des Opel-Werksorchesters über das Oval fahren.
Fritz von Opel war einer der Stars
So wie zu den Rennen am 21. und 22. Mai 1921 beim „1. Wiesbadener Automobil-Turnier“. Laut zeitgenössischen Berichten, die Carsten Ritter – außerdem ein Kenner und Liebhaber der 20er-Jahre – sorgfältig recherchiert hat, fanden damals zwölf Rennläufe für Automobile und Motorräder über Distanzen bis zu 90 Kilometer statt. Bei den meisten Läufen waren auch heimische Opel-Fahrzeuge am Start – und das sehr erfolgreich. Ganz vorne mit dabei: Fritz von Opel, der Enkel des Firmengründers Adam Opel und visionärer Sportsmann, sowie Werksfahrer Carl Jörns. Am Lenkrad des Opel 14 PS fuhr Jörns direkt zwei Siege ein, Fritz von Opel überquerte einmal vor allen anderen die Ziellinie – dabei erreichte er eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 113 km/h. Der ursprünglich als Rekordversuch für Wagen und Motorräder geplante 13. Lauf musste schließlich abgesagt werden – da das Publikum am Streckenrand bereits „zu unvorsichtig geworden war“, so der überlieferte Kommentar von damals.
Live vor Ort
Die Opelbahn gilt heute, 100 Jahre danach, als deutschlandweit bedeutsames „technisches Kulturdenkmal“. Das Gelände gehört der Stadt Mainz und wurde zwischenzeitlich zum Wasserschutzgebiet erklärt. Wer mehr über die Geschichte der Opelbahn erfahren möchte, kann nicht nur virtuell, sondern auch direkt vor Ort in die Vergangenheit eintauchen: 2013 wurde eine Besucherplattform samt Infotafeln über der Nordkurve errichtet – von dort aus hat man einen wunderbaren Blick über die Überreste des einstigen „Hot Spots“ des Motorsports.
Die Opelbahn heute: Die Natur hat sich das Gelände zurückerobert, die Steilkurven sind noch gut zu erkennen.
Mai 2021