„De Vatter kummt“

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Teil 5: Große Maschinen, große Persönlichkeiten


Mit 90 Quadratmetern beansprucht sie für sich allein so viel Grundfläche wie eine geräumige Dreizimmerwohnung. Sie ist über zwölf Meter hoch, verfügt über 3.600 Tonnen Presskraft, ist quasi elf Pressen in einer und fertigt hauptsächlich Fahrwerksteile aus dickwandigen Blechen. Sie kommt aus dem Hause Schuler und ist eine so genannte „Stufenpresse“ – und im Jahr 1975 die größte ihrer Art in Europa.

650 Tonnen bringt sie, die Schuler, auf ihre Waage. Und sie hat schon vor ihrer Installation für Aufsehen am Standort Kaiserslautern gesorgt. Ins Fundament des erweiterten Presswerks müssen 50 Tonnen mehr Stahl als geplant eingearbeitet werden, um eine erschütterungsfreie Pressen-Grundlage zu schaffen. Für ihre Montage benötigt man Autokräne und Hubgerüste. Schon allein für deren Einsatz sind umfangreiche statische Berechnungen nötig.

 


 

Großtransfer-(GT-)Pressen wie diese markieren den Aufbruch in eine neue produktionstechnische Ära. Sie erlauben einen „dreidimensionalen Teiletransport“: Es ist die erste Anlage, in der auch große Pressteile in mehreren Schritten geformt werden können. Dadurch beansprucht sie weniger Platz als eine herkömmliche Pressenstraße, auf der mehrere Einzelpressen miteinander verkettet sind, verbraucht weniger Energie – und produziert dennoch drei Mal so schnell. Und dementsprechend drei Mal so viel Material.

Vor allem aber symbolisiert die größte Stufenpresse Europas im Herzen der Pfalz: Opel ist wieder da – und sein Standort Kaiserslautern so stark wie nie. Und das nach einem äußerst schwierigen Jahr. 1974 traf die Ölkrise nicht nur die Automobilbranche, sondern die gesamte Weltwirtschaft tief ins Mark. Was war geschehen?

 

1974: ALS DIE SCHEICHS DEN ÖLHAHN ZUDREHTEN
Nach dem Jom-Kippur-Krieg setzten die Erdöl fördernden arabischen Staaten ihr Exportgut zum ersten Mal in der Geschichte als politische Waffe ein. Sie drosselten ihre Erdöl-Förderung um bis zu 25 Prozent und erließen Embargos. Die Folgen: Der Spritpreis stieg brutal. Der Gesetzgeber beschloss das erste Sonntagsfahrverbot, es entbrannten Diskussionen um zusätzliche Geschwindigkeitsbeschränkungen. Dies alles wirkte sich für die Automobilhersteller besonders fatal aus. Allein bei Opel sank die Zahl der Neuzulassungen innerhalb eines Jahres um über 40 Prozent.

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Damals wie heute: Im Presswerk fühlt sich der Mensch vor der Maschine manchmal recht klein…

 


Nach Jahren des Aufschwungs durchschreitet der junge Standort in Kaiserslautern nun erstmals eine Talsohle. Zwischen Dezember 1973 und Juni 1974 werden insgesamt acht Wochen Kurzarbeit anberaumt. Auch Personal muss abgebaut werden. Zuletzt standen 2.900 Menschen in Lohn und Brot der Opel-Pfalz, jetzt werden Abfindungen angeboten, für die sich bis Ende des Jahres 700 Beschäftigte entscheiden. Immerhin gelingt es, sämtliche Ausbildungsplätze zu erhalten.

 


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Ein VIP im Werk: Direktor Heinrich Peter Klein (Mitte) mit Jürgen Todenhöfer (r.), damals CDU-Bundestagsabgeordneter, heute Buchautor („Inside IS“).

 


 

DER BETRIEBSRAT SCHREIBT AN BRANDT –
UND SPERRT POLITIKER AUS

Lauterns Arbeitnehmervertreter finden, die Politik könnte mehr tun, um gegenzusteuern. Im September 1974 sprechen sie Volksvertretern, die vor der anstehenden Landtagswahl bei Opel um Stimmen werben wollen, via „Rheinpfalz“ ein „Hausverbot“ aus: „Da braucht keiner mehr zu kommen, denn mit leeren Wahlversprechungen ist niemandem gedient.“ Einige Monate zuvor hat Betriebsratsratsvorsitzender Dieter Krüger bereits ein Telegramm direkt an Bundeskanzler Willy Brandt geschickt: Er solle sich darüber im Klaren sein, dass Opel weiter Kurzarbeit und Arbeitsplatzverluste drohten, wenn mit Entscheidungen wie Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen mögliche Autokäufer verunsichert würden, heißt es darin. Eine Antwort bekommt er freilich nicht: Brandt stolpert kurz darauf über die Affäre um den Kanzleramtsspion Günter Guillaume.

 

Doch die Krise geht vorbei. Schon Anfang 1975 sprechen die Medien bereits wieder von einem, wenn auch „milden“ Autofrühling. Die Expansionsarbeiten am Produktionsort Kaiserslautern werden wieder intensiviert. Und neben der Aufsehen erregenden GT-Presse werden auch die geplanten sechs neuen Pressenstraßen installiert und in Betrieb genommen.


 

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Schicht um Schicht, Schacht um Schacht: Kaiserslautern erweitert sein Presswerk.

 


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Aufmerksame Zuhörer in 70er Jahre Krawattenchic: Werkdirektor Klein (rechts) erklärt Lauterns Stadtväter die Ausbaupläne. Links: Oberbürgermeister Hans Jung.

 


 

EINE BESONDERE GESCHENKIDEE:
DIE SCHULER FÜR ZU HAUSE
„Die Schuler“ ist der Stolz der Pfalz – und „vumm Vatter“ ganz besonders. Das ist der Spitzname, den sich die Mannschaft für den damaligen Obermeister und späteren Betriebsleiter Rudi Leichtfuß ausgedacht hat. Wenn er in seiner typischen, forschen Art mit wehendem Kittel und aufgekrempelten Ärmeln über die Gänge geschritten kommt, kündigen ihn sich die Werker an den Stationen gegenseitig an: „De Vatter kummt“, heißt es dann. „Er war einfach ein Macher“, erinnert sich Hans Wenz, der spätere Leiter des Presswerkzeugbaus. „Gleichsam beliebt wie respektiert, hatte er den Laden jederzeit im Griff.“

In absehbarer Zeit soll „de Vatter“, der am Standort ebenfalls zu den Männern der ersten Stunde gehört, sein 40-jähriges in Opel-Diensten feiern. „Da müssen wir ihm ein ganz besonderes Geschenk machen“, findet sein designierter Nachfolger Hugo Benz – und hat eine Idee: „Wir bauen für ihn die Schuler als Modell im Maßstab 1:20 nach, damit er sie mit nach Hause nehmen kann.“

 

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Originalgetreu: Die Schuler ist im Maßstab 1:20 nachgebaut. Das Modell von Obermeister Leichtfuß, der davorsteht, ebenso.

 

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Kein Modell, aber ein Händedruck zum Jubiläum: Lauterns legendärer Obermeister Rudi Leichtfuß (l.).

 

 

 

Wenn ein Pfälzer so etwas mal ausgesprochen hat, dauert es meistens es nicht lange, bis er zur Tat schreitet. Ein Modell-Werkstatt ist schnell ausgeguckt. „Im Keller des K20 hatten wir eine Damentoilette, obwohl da gar keine Frauen arbeiteten – die war dafür ideal.“ In liebevoller Kleinarbeit entsteht in den folgenden Wochen ein maßstabsgetreues Modell der gigantischen Schuler-Presse, das mit Hilfe eines Elektromotors sogar winzige Blechteile produziert. Und damit nicht genug der Detailversessenheit: Vor die Miniaturpresse wird „de Vatter“ höchstpersönlich modelliert, unverkennbar mit Hornbrille und aufgekrempelten Ärmeln, so aufmerksam „seine“ Presse begutachtend, wie er es auch in natura zu tun pflegt. Das Abbild dreht sogar den Kopf wie das Original.

 

 


Früh- und Spätschicht sagen Servus Hans Wenz, Leiter Presswerkzeugbau, bei seiner Verabschiedung vor einer Schautaufel, auf der sich seine Mannschaft auf Erinnerungsbildern präsentiert.

 


 

ZUM ZEHNTEN GEBURTSTAG BRUMMT’S
Im echten Presswerk „droben“ geht derweil alles seinen kraftvollen Gang. Insgesamt 107 Pressen und etwa 800 Presswerkzeuge sind im Einsatz. Jetzt können noch größere und noch komplexere Teile gefertigt werden, etwa Lenker, Seitenwände und Türrahmen. Drei Pressenstraßen arbeiten bereits vollautomatisch, das heißt: Zum Einlegen und Entnehmen der Pressteile ist kein Bedienungspersonal mehr erforderlich. Neben den „Stammkunden“ Rüsselsheim und Bochum gehören mittlerweile auch die Werke im belgischen Antwerpen und im englischen Vauxhall zu den regelmäßigen Abnehmern von Presswerkteilen „Made in Lautern“.

Auch am übrigen Standort brummt’s. Kurzarbeit ist Schnee von gestern, im Herbst 1976 werden sogar 100 Neueinstellungen gemeldet, so dass Werksdirektor Heinrich Peter Klein anlässlich der Feier zum zehnjährigen Bestehen der Opel-Pfalz zufrieden Bilanz ziehen kann. Mittlerweile wird auf dem Werksgelände drei Mal so viel Produktionsfläche in Anspruch genommen wie 1966. Rund 450 Millionen Mark hat Opel nunmehr in der Pfalz investiert, in Kürze werden erstmals 3.000 Beschäftigte am Standort gezählt.

 

 


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Im Presswerk waren viele Talente aktiv. Karl Dechert etwa betätigte sich in seiner Freizeit als Landschaftsmaler – und sein Sohn Klaus führte als Zeichner eine spitze Feder. Dieses Kleinod aus den 70er Jahren zeigt (v.l.) die Obermeister Hugo Benz, Reinhard Koltzer, Dieter Mösch, Abteilungsleiter Manfred Uecker, Betriebsleiter Rudi Leichtfuß, Abteilungsleiter Gerhard Treu und Obermeister Lothar Sandner.

 


 

ALS „DE VATTER“ NICHT ZUR ARBEIT KAM…
Und das Pressenmodell für den „Vatter“? Hugo Benz kassiert einen mächtigen Anpfiff von Werkdirektor Klein: So viel Zeit und Aufwand in ein Jubiläumsgeschenk zu investieren, sei absolut nicht akzeptabel. „Er hat’s doch aber verdient“, wehrt sich Benz. Offiziell zum 40-Jährigen überreicht werden darf dem „Vatter“ das Modell dann jedoch nicht. Man verabredet stattdessen, es ihm nach seiner Verabschiedung nach Hause zu liefern.

Leider jedoch wird es dazu nicht kommen. Schon bald nach seinem Jubiläum erscheint Rudi Leichtfuß eines Morgens nicht zur Arbeit. Seine langjährigen Weggefährten sind sofort beunruhigt: „De Vatter“ ist noch nie zu spät gekommen, und er hat sich auch noch nie krankschreiben lassen. Knapp zwei Stunden später wird aus der Sorge schreckliche Gewissheit: Rudi Leichtuß ist bei der Kirschernte im heimischen Garten tödlich verunglückt.

 

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Einer der fleißigsten Modellbauer damals: Christian Salzmann.

 

 

Das „Schuler“-Modell, das ihm zum Geschenk gemacht werden sollte, hält die Opel-Pfalz bis heute in Ehren. Werkdirektor Klein nimmt es danach immer mal zu Vorträgen an Schulen und Universitäten mit, und seit einigen Jahren dient es Auszubildenden als Studienobjekt. Und von den älteren Presswerkmitarbeitern, die in den 1970er Jahren noch unterm „Vatter“ arbeiteten, schafft es keiner, daran vorbeizugehen, ohne wehmütig zu lächeln.

 


Ein großer Tag mit „Knalleffekt“

von Hans Wenz


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Hans Wenz leitete bis 2012 den Presswerkzeugbau in der Pfalz. Insgesamt stand er 45 Jahre in Opel-Diensten.
Wäre mein Wehrdienst nicht dazwischen gekommen, würde auch ich zu den Männern der ersten Stunde am Opel-Standort Kaiserslautern zählen. So aber kam ich erst nach der Eröffnung, lernte Werkzeugmacher und arbeitete zunächst im K1, bis es 1973 hieß: „Ab hinne naus“. Die ersten Jahre wurden die Mitarbeiter mit dem Bus vom Portal 1 ans neue Presswerk transportiert. Das Portal 3 mitsamt dem großen Parkplatz entstand erst später.

 

Unvergessen geblieben ist mir der 12. Juli 1974. In der Ferienzeit gab’s keinen Bustransfer, daher wurden die Mitarbeiter mit allen möglichen Fahrzeugen „hinne naus“ kutschiert. Wir zwängten uns zu dritt in eine klapprige, dreirädrige Vespa, eine Art Kehrwagen. Wir waren gerade losgefahren, als uns ein Caravan in die Seite krachte. Ein Kollege hatte uns einfach übersehen. Unser Vehikel überschlug sich drei Mal, blieb liegen – und nach und nach krabbelten wir heraus. Alle drei unversehrt – zum Glück.

Warum mir das Datum so exakt in Erinnerung geblieben ist? Am gleichen Tag wurde meine Tochter Stephanie geboren, nachmittags um 16 Uhr. Viel hätte also nicht viel gefehlt, und ich hätte bei ihrer Geburt ebenfalls im Krankenhaus gelegen – vielleicht ja sogar im Bett neben ihr.

Den Job im Presswerk habe ich damals übrigens sehr gerne angenommen. Wie alle, die mit mir „hinne naus“ fuhren. Bei etwas ganz Neuem dabei zu sein, das hatte einen ganz besonderen Reiz. Da herrschte echte Aufbruchsstimmung, und entsprechend ehrgeizig ging jeder zur Sache, auch, weil jeder gute Aufstiegschancen für sich sah. Manfred Hawener, später Leiter unseres Presswerks, war damals mit mir als Kolonnenführer unterwegs.

Ich selbst hätte mich gerne zum Techniker weiterbilden lassen, aber unser legendärer Obermeister Rudi Leichtfuß, „de Vatter“, meinte, ich könnte auch so bei Opel Karriere machen. Und was „de Vatter“ sagte, zweifelte man nicht an.

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