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Rüsselsheim, Amsterdam, Zandvoort:
Roadtrip zum runden Geburtstag
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Als sich die rahmenlose Seitenscheibe an die fette Gummilippe der Dachkante drückt, sind die 90er-Jahre plötzlich wieder zum Greifen nah. Die Augen tasten über ein klares, kantiges Cockpit mit reichlich analogem Schmuck, die Hände umklammern ein Vierspeichenlenkrad, das Herz hüpft beim Anblick der zierlichen Mittelkonsole. Endlich mal nichts im Weg für den filmreifen Abschiedskuss. Aber davon sind wir noch einen ganzen Roadtrip entfernt, sinken erstmal in bequeme Sportsitze und fragen uns laut: Sind es tatsächlich schon 30 Jahre?
DER MANTA-NACHFOLGER WIRD 30
Für alle, die es auch nicht glauben können: Es stimmt, der Calibra feiert dieses Jahr seinen 30. Geburtstag. Opel schickte ihn ab 1989 als Manta-Nachfolger ins Rennen. In Form eines wunderschönen, bezahlbaren Volkscoupés. Zum runden Geburtstag führen wir einen gelben Calibra 4×4 aus, der bis vor ein paar Wochen noch treu und brav die Opel Classic bereicherte. Jetzt trägt er erstmals echte Kennzeichen, ist zugelassen und ausgehfertig. Also schlendern wir mit ihm – von Rüsselsheim über Amsterdam Richtung Meer.
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Frittiertes, Grachten
und ganz viele Tulpen
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Es ist kein Geheimnis: Amsterdam zählt seit Jahrzehnten zu den beliebtesten Städten Europas. Für Autofahrer jedoch ist die Metropole ein zweischneidiges Schwert. Denn nicht selten sind die verträumten Sträßchen entlang der rund 200 Grachten vollgestopft – außer man steuert sie gleich nach Sonnenaufgang an, oder kurz bevor die Nacht übernimmt. Der Calibra wählt die blaue Stunde und beschnuppert den Stadtkern ringförmig entlang der ältesten Grachten. Einst dienten sie den Booten als Transportwege und den Einwohnern als Abwasserkanäle. Heute erfreuen sie hauptsächlich Touristen, die sie auf schwimmenden Kähnen erkunden. Dabei stoppen die Sightseeing-Schiffe gern vor den besonders schmalen Häusern und berichten von einer Zeit, in der sich die Höhe der Zölle nach der Breite der Häuser richtete. Zu Seefahrtszeiten entstanden daher besonders zierliche Häuser – das schmalste misst nur 1,50 Meter.
BLÜHENDES GESCHÄFT
Neben der kulinarischen Eigenart, Essbares auf Teufel komm raus zu frittieren, lieben die Holländer Blumen. Etwa 80 Euro gibt jeder Einwohner pro Jahr in Tulpen und Co. aus. Zeitgleich handelt sich dabei um einen Exportschlager: auf jährlich etwa acht Milliarden Euro beläuft sich der grenzüberschreitende Blumenverkauf der Niederlande.
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Fahrrad-Kult, Coffeeshops
und rote Lichter
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Ebenso populär ist in den Niederlanden das Fahrrad: Mittlerweile soll’s in Amsterdam mehr Drahtesel als Einwohner geben – und davon zählt die Stadt immerhin fast 865.000. Dass das „fiets“ eines der beliebtesten Fortbewegungsmittel ist, spüren wir auch am Steuer des Calibra: Egal an welcher Ecke wir mit ihm abbiegen wollen, die Karawane der Radler ist gefühlt jedes Mal endlos.
AMSTERDAMS Triptychon
Drei weitere Besonderheiten der Stadt seien erwähnt: Da wären die Coffeeshops, in denen es selten um guten Kaffee geht, sondern um den legalen Cannabis-Genuss. Eine ganz andere Lust wird rings um die Oude Kirk – die älteste Kirche der Stadt – gestillt: Die Rede ist vom Rotlichtviertel De Wallen. Hier räkeln sich leicht bekleidete Frauen sämtlicher Alters- und Gewichtsklassen in bunt beleuchteten Schaufenstern. Informativer geht’s in der Prinsengracht 296 K zu – hier erzählt das einzigartige Hausboot-Museum die Geschichte der Wasser-Lofts.
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Zeitlos: Opel Calibra
Der Calibra beerbte 1989 den geliebten Manta und verkörperte ein klassisches viersitziges Coupé, das Opel in zeitlose Form goss. Wer sich mit dem Basisherz – einem 115 PS-starken 2.0 Liter-Aggregat – nicht zufrieden gab, wählte den 2.0 16V Turbo mit 203 PS und erreichte bis zu 245 km/h. In der DTM trat der Calibra mit einem 450 PS-starken V6-Motor an, mit dem Manuel Reuter 1996 den Titel holte.
Abgehoben ist der Zweitürer jedoch nie: Anfangs kostete er 36.900 DM, für den V6 musste man Mitte der 90er knapp 55.000 DM hinblättern. Bis 1997 entstanden fast 240.000 Calibra – und eigentlich war der Nachfolger schon beschlossene Sache. Sogar einen leckeren Prototypen gab es – doch dann zog GM die Notbremse.
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Genug Stadtrummel? Meint auch der Calibra und zieht uns raus aufs Land – Richtung Küste. Dank seiner windschnittigen Form brauchte er noch nie viele Pferde, um Fahrspaß zu servieren. Und wie es sich für einen Volkssportler gehört, lässt er seinen Passagieren genug Platz und vergisst auch den Komfort nicht. Erstaunlich, wie viel Federung man einem Sportcoupé vor 30 Jahren zugestanden hat – da schüttelt einen heute jede zweite Mittelklasse-Limousine mehr durch.
AUF EINER WELLE DER SYMPATHIE
So rauschen wir bequem und sorgenlos zum Meer – im Gepäck das seltene Gefühl, in einem Oldtimer zu sitzen, der sich so gar nicht wie einer anfühlt. Damit sind all die Sorgen gemeint, die ein historisches Auto bisweilen eben so mit sich bringt. Beim Calibra fragt keiner, ob er durchhält. Da freuen sich die Menschen – und staunen, wie lebendig sein Zweiliter-Sauger noch antritt. Wie satt er klingt, wenn bei 6.000 Umdrehungen 150 PS den Ton angeben.
In Zandvoort angekommen, klatschen die Wellen vor Begeisterung auf den Sandstrand. Wir parken den Gelben direkt an der Küste und lassen ihn verschnaufen. Wie zeitlos er da steht – der schöne, nun 30-jährige Blitz. Happy Birthday!
August 2019