Wo normalerweise alle von Opel entwickelten Modelle harte Prüfungen bestehen müssen, flanieren an diesem Samstag (10. September) tausende Menschen über den Asphalt. Das Opel Test Center Dudenhofen feiert seinen 50. Geburtstag. Am Ende werden es weit über 20.000 sein, die gekommen sind, um die Marke mit dem Blitz hautnah zu „erfahren“. Treffpunkt 11.30 Uhr, am neuen Skidpad: Die Opel Post ist mit Kollege Rainer Rösch verabredet. Er ist zuständig für Wartung und Instandhaltung von Teststrecken, Prüfständen und Gebäuden des Test Centers. Und das seit 25 Jahren. Er kennt jeden Winkel. Der perfekte Begleiter also, um das Gelände zu erkunden. Der Opel-Ingenieur gewährt die nächsten zwei Stunden einen sehr persönlichen Einblick in die „Zukunftswerkstatt“ des Unternehmens.
MIT DEM KADETT E FING ALLES AN
Seit 35 Jahren arbeite er bei Opel, 25 Jahre davon in Dudenhofen, erzählt Rainer Rösch, während er in Richtung des grauen Kadett A schlendert. Den hat die Opel Classic-Werkstatt zusammen mit vielen weiteren Exponaten auf dem neuen 300-Meter-Skidpad platziert. „Das war eines der ersten Modelle, die hier getestet wurden, als ich anfing war ein Kadett E. Und mein erster privater Opel.“ Kaum hat er’s ausgesprochen, ruft eine Stimme hinter ihm: „Meiner war ein Kadett A!“ Rösch erspäht Karl-Heinz Schiewe, seit zehn Jahren im Ruhestand, davor 40 Jahre lang für Streckeninstandhaltung in Dudenhofen zuständig. Großes Hallo.
Schon nach kurzer Zeit tauschen die beiden eine frühere gemeinsame Erinnerung aus: „Als die Rundbahn noch über eine Betondecke verfügte, hat sie sich in einem brütend heißen Sommer an einigen Stellen gewellt“, erzählt Schiewe. „Ich warnte einen Testfahrer, dass sich eine ordentliche Welle in Form eines kleinen Zeltdaches gebildet hatte. Er fuhr los, um nachzusehen, wo genau sie sich befindet. Plötzlich ein Schlag und die Hinterachse an seinem Opel war abgerissen. Darauf meldete er trocken: ,Jetzt hab ich sie auch entdeckt.‘“
US-STREITKRÄFTE STÜRMEN DUDENHOFEN
Nächstes Fahrzeug, nächste Geschichte. Dieses Mal ist es ein Calibra, der eine Erinnerung zu Tage fördert. „Als unser Testfahrer damals die Turbo-Version mit 250 Sachen über unseren Rundkurs jagte, meldete er, dass sich Soldaten mit Sturmgepäck hinter der Leitplanke verschanzt hätten.“ Es stellte sich heraus, dass es US-Militärs von der nahen Kaserne in Babenhausen waren, die sich bei einem Manöver verlaufen hatten. „Sie hatten unsere Drahtzäune durchgeschnitten, um aufs Gelände zu gelangen. Dachten, das gehöre zur Übung“, erinnert sich Rösch. „Immerhin wurden sie anschließend von ihrem General höchstpersönlich abgeholt, der sich bei uns tausend Mal entschuldigte.“
ALTE LIEBE ROSTET NICHT
Rainer Rösch stößt auf einen strahlenden Jubilar: einen Kadett Aero. 40 Jahre alt ist das Modell in diesem Jahr geworden, und es ist tatsächlich etwas ganz Besonderes. Offiziell existieren von ihm nur 1.242 Exemplare. Und wem gehört dieses seltene Stück? „Na mir“, ruft es von hinten. Und Rainer Rösch darf einem weiteren ehemaligen Kollegen die Hand schütteln. Wie viele andere Mitglieder der Alt Opel-Interessengemeinschaft unterstützt auch Dieter Engel die Opel Classic Werkstatt bei solchen Events, indem sie Prachtexemplare aus ihrem Privatbesitz als Exponate zur Verfügung stellen. „Mit Dieter habe ich vor meiner Zeit in Dudenhofen in der Rüsselsheimer Motorenentwicklung zusammengearbeitet“, erzählt Rainer Rösch.
ZWEIRÄDER SIND DUDENHOFEN NICHT FREMD
Mit einer notierten Verabredung mit Dieter Engel im Kalender, trifft Rösch bereits den nächsten Ex-Kollegen. Jürgen Nöll war ebenfalls mit ihm in der Motorenentwicklung eingesetzt. Heute ist der anerkannte Zweirad-Experte mit dem Radfahrer-Verein 1888 unterwegs, um auf dem neuen Skidpad des Opel Test Centers an ein Stück Opel-Geschichte zu erinnern, das Furore machte, lange bevor das erste Auto in Dudenhofen seine ersten Runden drehte. „Fahrräder sieht man hier ja ansonsten nie“, sagt Pensionär Nöll. „Das stimmt nicht so ganz“, widerspricht Rainer Rösch und erzählt, wie 2010 auf der Schnellfahrbahn gleich zwei Weltrekorde mit Liegerädern aufgestellt wurden. Der Deutsche Axel Fehlau legte in einer sechsstündigen Nonstop-Fahrt über 426 Kilometer zurück, die Niederländerin Ellen van Vugt schaffte im gleichen Zeitraum über 338 Kilometer.
DER PAPARAZZO IM BAUM
Im Anschluss rollt Rainer Rösch selbst über den Fünf-Kilometer-Rundkurs, der das Test Center vor allem aus der Vogelperspektive so unverwechselbar macht. „Illustre Gäste schauen hier immer wieder mal vorbei. Manchmal auch ungebetene.“ An einem der vier Bremsstopps an der Schnellfahrbahn hält er an. „Hier hat einer unserer Fahrer Bremstests gemacht, als ein Fesselballon über ihn hinwegschwebte. Drin saß ein Paparazzo, der Erlkönige fotografieren wollte. Er war so mit seiner Kamera beschäftigt, dass er nicht merkte, wie sein Ballon an Höhe verlor. Schließlich hing er da oben in den Baumwipfeln – und wir haben ihn natürlich aus seiner misslichen Lage befreit.“
FÜCHSIN EMMA UND DIE DICKE TANNE
Auf dem Weg zur Berg- und Tal-Strecke passiert Rösch den Platz, den vor allem die Testfahrer in der Freiluftsaison für ihre Pausen nutzen. „Hier haben sich die Kollegen mal mit einer Füchsin angefreundet. Emma heißt sie. Die war irgendwann so zahm, dass sie sich auf den Schoss setzte.“ Nur ein paar Meter weiter, thront Dudenhofens ganz besonderen Stolz: Hessens älteste Kiefer, genannt „die dicke Tanne“, 25 Meter hoch, 275 Jahre alt. „Sie obliegt meiner persönlichen Obhut. Zwei Mal im Jahr schaut die Untere Naturschutzbehörde vorbei, um sich zu überzeugen, dass wir sie auch pfleglich behandeln.“ Schon an der liebevollen Art, wie der Ingenieur über sie spricht, ist zu erkennen: Sorgen brauchen sich die Naturschützer nicht zu machen.
HIER KOMMEN SELBST HARDROCKER INS SCHLEUDERN
An seinem Arbeitsplatz in den zentralen Verwaltungsgebäuden präsentiert Rösch ein Foto eines Flakgeschosses aus dem Zweiten Weltkrieg. „Davon haben wir rund 2.000 gefunden, bevor wir die neue lange Gerade bauten“. Auch das gehöre mittlerweile zum Alltagsgeschäft in Dudenhofen: Vor jeder neuen Erdbewegung muss der Kampfmittelräumdienst verständigt werden, der das anvisierte Gelände erst einmal auf solche Überbleibsel untersucht – „und dafür sind wir auch sehr dankbar.“
In seinen 25 Jahren in der Zukunftswerkstatt hat Rösch schon einiges an Prominenz begrüßt. Der Boxer Axel Schulz schaute ebenso vorbei wie die US-amerikanischen Schwermetallrocker der Band „Papa Roach“, die mit dem damaligen Opel-Fahrer der Deutschen Tourenwagen-Masters (DTM), Timo Scheider, übers Skidpad schleuderten.
EIN EXPERIMENT MIT DEM BLITZ
2003 kam Thomas Elstner, Sohn der „Wetten, dass…“-Legende Frank, ins Opel Test Center, um ein Experiment für seine Show „Was passiert, wenn…“ zu starten. „Er wollte herausfinden, wie schnell man durch eine Geschwindigkeitskontrolle fahren muss, damit man, wenn man geblitzt wird, auf dem Foto nicht erkannt wird.“ Das funktioniert tatsächlich, „allerdings erst bei über 300 km/h, ist also auf öffentlichen Straßen nicht zu empfehlen.“
Besonders gern erinnert sich der Dudenhofener Kollege an den Rennfahrer Heinz-Harald Frentzen, der in seiner Zeit als Opel DTM-Pilot öfters nach Dudenhofen kam. „Der hatte überhaupt keine Starallüren, hat vor seinen Fahrversuchen höchstpersönlich die Fahrbahn gekehrt.“
EIN PARADIES FÜR ALLE, DIE OPEL LIEBEN
Es ist also einiges los im südhessischen Wald, abgesehen davon, dass es ja auch im Alltag permanent brummt. Wie aber ist es auszuhalten, wenn Opel Beruf und Berufung zugleich ist, man selbst aber mit Verwaltungsaufgaben betraut ist und nicht als Testfahrer hinterm Steuer sitzt? „Natürlich sitze ich auch selbst hinterm Steuer“, erzählt Rainer Rösch, „Etwa nach den Ride Sessions, die wir regelmäßig für Mitarbeiter veranstalten. Oder wenn ich Gäste zu betreuen habe.“
Gerne ist er auch mal als Beifahrer dabei, etwa von Volker Stryczek, Leiter des Opel Performance Centers und leidenschaftlicher Rennfahrer von Profi-Qualität. „Der ist mit mir mal in einem DTM-Taxi über die Parcours gejagt, da habe ich intensiv erlebt, wie Beschleunigen und Verzögern funktioniert.“
Überhaupt ist die Zukunftswerkstatt im Wald für Rainer Rösch vor allem eines: „Ein Paradies für Menschen, die Opel lieben.“