Revolution aus Rüsselsheim

Der Experimental GT aus dem Jahr 1965 ist das erste Konzeptauto in der Geschichte der europäischen Automobilindustrie, erschaffen im ersten europäischen Designzentrum. „Es herrschte Aufbruchstimmung bei Opel wie zuletzt 1928 beim Bau der Raketenwagen“, erinnert sich der ehemalige Designer Erhard Schnell Jahrzehnte später. „Wir waren jung und geradezu euphorisch, einen zweisitzigen Sportwagen entwerfen zu dürfen.“ Opel-Designchef Clare MacKichan ist überzeugt, dass seine Truppe einen klassischen Sportwagen entwickeln kann.

Er stellt sich ein kompaktes, besonders aussagekräftiges Fahrzeug vor. Klar ist nur, dass es ein zweisitziger Sportwagen auf Kadett-Basis werden soll. Die Strategen um Verkaufsleiter Bob Lutz stützen die Entscheidung mit einer Marktuntersuchung, die einen klaren Bedarf für einen „rassigen, deutschen, modern konstruieren Sportwagen mit beachtlichen Leistungen in der 10.000 DM-Preisklasse“ identifiziert. Inspiriert vom Erfolg des Kadett Coupé von 1963 – mit 48 PS und 132 km/h Höchstgeschwindigkeit – ziert die ersten Entwürfe des GTs so auch der Arbeitstitel „Kadett GT“.

Es ist die erste im neuen Rüsselsheimer Stylingstudio entstandene Konzeptstudie: der Experimental GT – designt unter der Federführung von Erhard Schnell.
Die runden Heckleuchten tauchen bereits in den frühen Skizzen auf – der Entwurf stammt von Murat Nasr, dem damaligen Assistenten von Erhard Schnell.
Auch anhand der ersten Skizzen von Erhard Schnell wird klar, dass die Designer einen rassigen Sportwagen im Sinn hatten.
Damit gehen sie weit über die Vorgaben – einen sportlich gezeichneten Kadett GT – hinaus.
Erhard Schnell, damals Leiter der Vorausentwicklung, zeichnet die markante Front und gibt das Coke-Bottle-Design vor.

Doch Schnells Mannschaft geht mit dem Experimental GT viel weiter als ursprünglich geplant: „Wir wollten nicht nur einen Kadett GT machen. Wir haben uns gesagt: Das machen wir jetzt richtig. Einen rassigen Sportwagen.“ Die Motorposition verlegt Schnell hinter die Vorderachse. Den ersten Skizzen folgen schnell skalierte Modelle aus Modellierton und – wie typisch im Design-Entwicklungsprozess – bald auch Modelle in Originalgröße. Um das Auto filigran und leichtgewichtig aussehen zu lassen und die A- und B-Säulen schlank darzustellen, integrieren die Modelleure sogar Plexiglasscheiben in das Tonmodell.

Heutzutage hätte ein Konzeptauto von der Bedeutung des Experimental GT die Aufmerksamkeit eines gesamten Design-Teams. Schnell kann sich seinerzeit dem Sportcoupé nur mit monatelangen Unterbrechungen konzentriert widmen. „Das war ein Auftrag in der geheimen Abteilung. Geheim, geheim“, schmunzelte Schnell. Clare MacKichan hat den Vorstand nicht eingeweiht. Als die Studie dann fertig ist, muss er doch seine Vorgesetzten informieren, um den Sportwagen auf der IAA zeigen zu können. „Uns ist dann ein riesiger Stein vom Herzen gefallen, als die hohen Herren bei der ersten internen Vorstellung spontan applaudiert haben und völlig hingerissen waren.“

Weltpremiere feiert der Opel Experimental GT im September 1965 auf der Frankfurter Internationalen Automobilausstellung.
Das erste Konzeptfahrzeug eines europäischen Herstellers überhaupt wird dort zum Publikumsmagneten.

Friedhelm Engler, langjähriger Chef des Advanced Designs bei Opel, ist begeistert vom Ergebnis: „Es war schon sehr vermessen, ein echtes Frontmittelmotorkonzept auf Basis der B-Kadett-Fahrzeugarchitektur vorzuschlagen. Statt bewährte Großserienzutaten mit einer neuen Außenhaut zu garnieren, hatte man keine Scheu vor dem ganz großen Wurf, einem wirklichen Gran Turismo. In den gerade eröffneten Opel Style Studios war alles möglich. Das hatte fast schon etwas Lausbübisches, etwas Freches. Schlagartig konnte man in Rüsselsheim in einer Design-Liga mit den großen Italienern mitspielen, mit den Scuderias wie Ferrari, Pininfarina oder Bertone. Der GT hat durchaus ein italienisch inspiriertes Design. Man könnte fast sagen, der GT ist der Dino aus Rüsselsheim: stahlgewordener Mut. Chapeau!“

Weltpremiere des Experimental GT

Nicht aus Zuffenhausen, nicht aus Maranello, sondern aus Rüsselsheim kommt so dann auch die Sensation der Internationalen Automobilausstellung 1965 in Frankfurt. Opel präsentiert eine silberne Skulptur, den Silberstreif im grau-braun-beigefarbenen Opel-Universum: die Experimental-Studie Opel Gran Turismo Coupé. Das Glanzlicht in der braven Kadett- und Rekord-Palette verkörpert den Traum von einem zweisitzigen Sportwagen. Die Nummer zwei der Zulassungsstatistik hinter Volkswagen trifft mit dieser Studie den Zeitgeist. Die Wunden des Weltkriegs sind verheilt, das Wirtschaftswunder lässt das Land erblühen und die Menschen den Wohlstand genießen.

Offiziell bestreitet Opel, das Fahrzeug in Serie zu bringen. Ein Versuchsfahrzeug wird für die Erprobung zum Beispiel der Karosserieform aufgebaut.
Die Erprobungen finden auf dem Dudenhofener Prüffeld statt. Parallel dazu, beginnen Ingenieure und Designer an der Serienreife des GT zu feilen.

„Das Opel Gran Turismo Coupé demonstriert in die Zukunft weisende Tendenzen hinsichtlich Form und Konstruktion“, formuliert Opel am 13. September 1965. Der flache Sportwagen ist eine Skulptur mit gespannten Flächen und geschwungenen Linien. Ein ausdrucksstarkes Design ziert die Flanke: muskulöse Kotflügel und eine schlanke Taille – das Coke-Bottle-Design. Die Türen haben die Designer weit ins Dach gezogen, das kurze, abrupt abreißende Heck zieren zwei mittige Auspuffrohre und links und rechts je zwei markante Leuchten.

Offiziell bestreitet Opel die Pläne, dieses Auto jemals in Serie zu produzieren. „Das Opel GT Coupé wird als Versuchsfahrzeug für Hochgeschwindigkeitsfahrten zur Erprobung von Karosserieformen, Motoren, Bremsen, Lenkungssystem und Radaufhängungen auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken des Dudenhofener Prüffelds eingesetzt“, heißt es in der Pressemitteilung. Die Resonanz ist allerdings so überwältigend, dass kurz darauf intern der Startschuss gegeben wird für Projekt „1484“. Und während Ingenieure und Designer an der Serienreife feilen, sorgt die Studie weiter für Aufsehen auf Automessen von Turin über Genf und Paris bis nach New York.  


September 2024

Fotos: Opel Archiv