Wir sind in den 50er-Jahren. Auf den Straßen rollen Kadetten und Kapitäne, in den Schaufenstern locken Petticoats und Hüte, auf den Büffets russische Eier und falsche Hasen. Und an den Wochenenden grassiert in Deutschland das Rennfieber. Von Motorlärm jedoch keine Spur, für Beschleunigung sorgt die Schwerkraft allein. Seifenkistenrennen ziehen Teilnehmer und Zuschauer magisch an, 1953 werden bereits in 200 Städten Wettbewerbe gefahren, mehr als 10.000 Kinder und Jugendliche bauen sich ihre „Kisten“ und rumpeln darin von den Startrampen.
80.000 menschen beim All American Soap Box Derby
Die Sportart kam aus den Vereinigten Staaten nach Europa. Schon 1949 wurden Rennen geplant, das Jugendhilfsprogramm German Youth Activities (GYA) der amerikanischen Besatzer war die Basis der Rennserie. In deren Heimat waren die Soap-Box-Races, die Seifenkistenrennen schon seit geraumer Zeit ein gewaltiges Spektakel, in Akron im Bundesstaat Ohio trafen sich regelmäßig mehr als 80.000 Zuschauer, die sehen wollten, welcher Bub beim All American Soap Box Derby den Titel des Weltmeisters mitnimmt. Die ersten Rennen in Amerika wurden 1933 gefahren, in Dayton (Ohio) rollten die Teilnehmer um die Wette. Die Idee dazu stammte von einem Seifenproduzenten, der den Umriss eines Kinderautos auf das Holz seiner Großverpackungen drucken ließ. Mit Säge und Hobel ließ sich die Struktur des Wagens leicht in Eigenarbeit herstellen, die Seifensieder lieferten findigerweise gleich Achsen, Radsatz, Seilzüge und Lenkung mit. Das Basismaterial brachte den kleinen Gefährten ihren Namen ein: Seifenkisten.
Bereits 1904 bauen Kinder Autos aus Holz
In Deutschland begleitete Opel schon kurz nach dem Zweiten Krieg den vermeintlich neuen Trendsport. Und das nicht ohne Grund. Der Weg der rasenden Kisten war im Grunde nur eine Rückkehr zum Geburtsort. Bereits im Jahr 1904, die Nation wurde gerade von zunehmender Autobegeisterung bewegt, bauten Kinder erste Kleinwagen aus Holz. Inspiriert hatte sie das legendäre Gordon-Bennett-Rennen, das am 17. Juni in Oberursel am Taunus zum ersten Mal auf deutschen Boden gestartet wurde und die europäische Motorsportelite ins Hessische zog.
Rivalen der Rennbahn an den Taunushängen
Die meisten der zusehenden Kinder hatten keinen sehnlicheren Wunsch, als selber Rennfahrer zu werden. Der Drang, es den Großen nachzumachen, führte bald zum Ziel. In Heimarbeit wurden Miniaturrennwagen konstruiert, die geschoben, mit Füßen bewegt werden oder ganz einfach ein Gefälle herunterrollen sollten. Am 31. Juli 1904 trafen die Rivalen der Rennbahn beim Sommerfest des Bürgervereins „Humor“ an den Taunushängen zum ersten Mal aufeinander: 16 Eigenbauten gingen an den Start.
1907, Kaiserpreis-Rennen: Jörns startet mit Opel durch
Beinahe auf den Tag genau drei Jahre später bekommen die hölzernen Miniaturen konkretere Formen. Beim Kaiserpreis-Rennen in Usingen belegt Carl Jörns auf Opel des dritten Platz und erhält den Preis für den besten deutschen Wagen. Was den Nachwuchs anspornt, den Erfolg ohne Motor zu wiederhohlen, endlich gibt es ein formales Leitmotiv. Jörns’ Opel wird zum Vorbild für 40 Holzautos, deren Fahrwerke in der Vergangenheit unter Kinder- und Leiterwagen, an Gepäckkarren oder Kleinkutschen Dienst getan haben. Am 21. Juli 1907 rollen die Gefährte die Usinger Hügel hinunter, die überwältigend große Zuschauerkulisse und die Begeisterung der Teilnehmer (sowie ihrer Väter) führen schnell zu weiteren Rennveranstaltungen mit den sogenannten Kinderautomobilen.
falscher Ehrgeiz und kriminelles Potenzial
Oberursel ist also die Geburtsstätte der Seifenkiste, wenigstens ihres Urahns? Ganz klar ist das nicht, denn Überlieferungen zu Folge gab es bereits 1902 in Champigny bei Paris ein Wettrennen mit Holzautos. Allerdings existieren keine schriftlichen Aufzeichnungen über diese Fahrt, wohl aber über die Ereignisse im Vordertaunus. Sogar eine wenig rühmliche Geschichte wird berichtet. Die Oberurseler Tageszeitungen „Der Bürgerfreund“ und der „Lokal-Anzeiger“ berichten von einer Sabotage am Wagen der Gebrüder Eberhard und Josef Steden, der, konstruiert von deren älteren Bruder Jean, aufgrund „wesentlicher Verbesserungen an Rädern und Lenkung“, alle Chancen auf den Sieg hatte. Ein Mann machte sich vor dem Rennen heimlich am flinken Gefährt zu schaffen, bei der Wettfahrt versagte die Steuerung, und nur mit Glück wurde ein Unfall vermieden. Die Untersuchung ergab, dass die Steuerseile angeschnitten worden waren, als Täter wurde der Vater eines anderen Rennteilnehmers entlarvt. Schon bei den ersten Rennen mit den Kisten war also falscher Ehrgeiz und erhebliches kriminelles Potenzial vorhanden.
Versteckte Bleigewichte, strenge Kontrollen
Später, als bei den großen Derbys bis zu 5000 Mark Preisgelder zu gewinnen waren, erlagen weitere Teilnehmer der Versuchung, ihre Kiste regelwidrig zu beschleunigen. Mit versteckten Bleigewichten wurden sie schwerer gemacht, die Inspektoren suchten mit Probebohrungen ins Holz oder das Pappmaché nach dem unlauteren Vorteil. Die Überprüfung der Wagen zehrte bei vielen der Teilnehmer an den Nerven. Denn die Bestimmungen waren bereits in den 50er-Jahren streng und nicht wenige Neulinge im Seifenkisten-Sport mussten noch direkt vor dem Rennen nachbessern oder durften gar nicht erst mitfahren. Die Stabilität der Konstruktion, die Sicherheit von Bremsen und Lenkung und immer wieder das Gewicht waren die häufigsten Kriterien, die zum Ausschluss führten.
Der Trendsport boomt in den 50er-Jahren
Die große Zeit der Seifenkisten-Derbys beginnt in den Fünfzigern, als Opel einen offiziellen Wettbewerb in Deutschland einführt. Die Nachwuchs-Piloten fahren um den „Großen Opel Preis“, sie müssen zwischen 11 und 15 Jahre alt sein. Der Automobilhersteller liefert nach amerikanischem Vorbild die einheitliche Technik, gibt Bau-Anleitungen heraus und übernimmt die Organisation. Statt der Probebohrungen ins Holz wird moderne Infrarottechnik bei den Inspektionen eingesetzt, um unerlaubt benutztes Metall aufzuspüren. Wagen und Fahrer dürfen zusammen nicht mehr als 113 Kilogramm wiegen.
Sturzhelme sind Pflicht und Mädchen nicht erlaubt
Das Reglement ist streng: Das Rennfahrzeug muss vom Teilnehmer selbst gebaut worden sein, fremde Hilfe ist nur von Altersgenossen unter 16 Jahren erlaubt. Es dürfen nur die von Opel gelieferten Radsätze benutzt werden, Sturzhelme sind Vorschrift und Mädchen ausdrücklich nicht erlaubt. „Das Seifenkistenrennen ist ein Ereignis für Jungen, die Gestaltung des Rennens ist Sache von Männern“, heißt es im Regelwerk.
Geschwindigkeiten von bis zu 50 km/h
Die Rennstrecke des Derbys ist 350 Meter lang, gestartet wird von einer 1,2 Meter hohen Rampe, sodass bei einem Gefälle von vier Prozent kurz vor dem Ziel eine Geschwindigkeit von 40 bis 50 Kilometer in der Stunde erreicht werden. Die Entscheidungen fallen äußerst knapp, schon nach wenigen Veranstaltungen wird ein Zielkamera eingesetzt, die das Überfahren der Linie am Ende der Strecke festhält und so klar den Sieger ausweist. Die Rennfahrer müssen die Kleiderordnung einhalten: „Zum Fest- und Normalanzug gehören eine weiße Mütze, ein Rennhelm, kurze schwarze Hosen und ein gelbes Rennhemd, das von Opel gestellt wird.“
Im Opel-Teambus zum nationalen Event
Zum Finale des Derbys geht es mit Opel-Mannschaftsbussen nach Duisburg Ulmenhorst, Trainingslager beziehen die Teilnehmer im Heim des Westdeutschen Fußballbundes. Der Gewinner bekommt 5000 Mark als Preisgeld, die Garantie auf einen Ausbildungsplatz und eine Reise in die Vereinigten Staaten, wo er am All American Soap Box Derby in Akron teilnehmen darf. In Deutschland werden die Derbys in dieser Zeit zum nationalen Ereignis, bei den Wettfahrten finden sich prominente Sportler wie Helmut Rahn oder Max Schmeling an den Rennstrecken ein. 1971 zieht sich Opel nach 23 Championaten aus dem Seifenkisten-Sport zurück. Als Nachfolge-Organisation wird zwei Jahre später in Frankfurt der Deutsche Seifenkisten Derby e.V. gegründet, er betreut seit dem die Deutschen und die Europa-Meisterschaften.
Heute vermessen Lasergeräte die Spur
Geändert hat sich seit diesen Zeiten eine ganze Menge. Technische Werkstoffe wie glasfaserverstärkter Kunststoff haben Holz und Pappmaché als Material für das Chassis abgelöst, Achsfederungen machen die Kisten schneller. Und wer Siegeswillen zeigt, vermisst die Spur seines Wagens mit Lasergeräten. Die aerodynamischen Eigenschaften erhalten immer höheren Stellenwert, eine ganze Reihe von Klubs widmen sich dem Kisten-Sport und sorgen für technische Unterstützung.
eine Junior-Kiste kostet 600 Euro
Die Bausätze und Teile für die Wettbewerbsfahrzeuge werden vom Deutschen Seifenkisten Derby e.V. zum Kauf angeboten, rund 600 Euro kostet eine Junior-Kiste. Die wesentlichste Veränderung aber betrifft das Geschlecht der Rennfahrer: In den Teilnehmer- und immer häufiger in den Siegerlisten finden sich Mädchen. Neben der präzisen Technik bei der Konstruktion der Kiste ist beim Fahren eine ruhige Hand an der Lenkung gefragt. Die weiblichen Starter scheinen eine solche zu haben.
Text: Michael Kirchberger; Fotos: Opel Classic, Vortaunus-Museum Oberursel
Das Wettbewerbsfahrzeug:
Heute gibt es zwei nationale und drei internationale Klassen, die sich entweder an verschiedene Altersgruppen wenden oder abweichende Spezifikationen in ihrer Konstruktion haben. In Deutschland finden sich die Derby-gerechten Junior- und Senior-Kisten. Erstere dürfen bei Rennen von 8 bis 12 Jahre alten Fahrerinnen oder Fahrern pilotiert werden. Die Karosserie sieht eine sitzende Position vor, ihre Länge ist auf 205 Zentimeter, ihre Breite auf 45 Zentimeter und die Höhe auf 43,5 Zentimeter begrenzt. Als Baumaterial sind nichtsplitternde Holzarten (also keine Spanplatten) erlaubt, Achsen, Räder, Bremse und Lenkung müssen vom Deutschen Seifenkisten Derby e.V. bezogen werden. Das Gewicht darf einschließlich des Piloten in Rennkleidung 90 Kilogramm nicht überschreiten. Ein kompletter Bausatz kostet rund 500 Euro.
Die Senior-Klasse ist für Fahrerinnen und Fahrer zwischen 10 und 16 Jahren zugelassen, erlaubt sowohl die sitzende als auch eine liegende Position, in letzterem Fall ist ein Überrollschutz Pflicht. Als maximale Länge sind 2,15 Meter erlaubt, die Mindestbreite liegt bei 30, die minimale Höhe bei 34 Zentimeter. Als Baumaterial sind Holz oder Kunststoff zugelassen, sofern es nicht splitternder Werkstoff ist. Das erlaubte Höchstgewicht liegt bei 113 Kilogramm. Der Mechaniksatz (Räder, Achsen, Lenkung, Bremse) kostet 350 Euro, eine komplette Kiste etwa 700 Euro.
In den internationalen Derbys werden Stock Cars, Super Stock Cars und die Scottie Spezial Klasse gefahren (Komplettpreise etwa zwischen 600 und 800 Euro).
Die Rennstrecke:
Der Dachverband, der Deutsche Seifenkistenderby e.V., empfiehlt den Veranstaltern eine Rennstrecke mit etwa sechs Meter Breite und nicht mehr als 350 Meter Länge. Ein ideales Gefälle sind vier Prozent, der Belag muss glatt asphaltiert sein, hervorstehende Kanaldeckel oder andere Hindernisse sind unerwünscht. Der DSKD kann bei der Rennorganisation unterstützen, einzelne Vereine bieten ebenfalls Startrampen, elektronische Zeitmesseinrichtungen und Beschallungsanlagen an.
Weitere Informationen und Termine bei:
Deutsches Seifenkisten Derby e.V.
54340 Klüsserath/Mosel
Tel.: 06507 – 99 1 66
Fax: 06507 – 99 1 67
Email: OZ@DSKD.org
Internet: www.DSKD.org
Die Ausstellung:
Im Vortaunus-Museum in Oberursel ist die Geschichte des Seifenkisten-Sports dokumentiert. Wettberwerbsfahrzeuge aus verschiedenen Jahrgängen, ein originaler Opel-Bausatz, einzelne Bauteile, Fotos, Filmberichte und Zeitungsartikel belegen die Tradition der Derbys äußerst unterhaltsam. Das Museum ist täglich ab 8 Uhr (Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag), sowie mittwochs und samstags ab 10 Uhr, am Sonntag ab 14 Uhr geöffnet.
Vortaunus-Museum
Marktplatz 1
61440 Oberusel/Taunus
Tel.: 06171/50 22 32