Selbst wenn Bernd Justen privat in einem Auto unterwegs ist, lebt er ungehemmt seine Berufsmacke aus. Entspannen, dabei Musik hören, telefonieren oder Schokoriegel essen, das macht Justen so gut wie nie. „Ich fahre hochkonzentriert, still und verzichte auf alle Nebengeräusche. Mit mir im Fahrzeug hört man die Flöhe husten.“
Ob Flöhe wirklich husten können? Kein Biologiebuch verrät es. Wer die Flöhe husten hört, muss also schon ein überaus feines Gehör haben und die Ohren spitzen. In der Redewendung ist das nicht ausschließlich schmeichelhaft gemeint. Denn solche Zeitgenossen sind übersensibel und spitzfindig. Diese Eigenschaften treffen – im Auto – auf Justen zu. Er braucht das. Um wahrnehmen zu können, ob der Wind durch einen Spalt durchpfeift. Um die Tonlage des Motors zu bewerten, die Akustik des Fensterhebers, des Blinkers, aber auch der Klimaanlage.
DIE VERWANDLUNG DER MACKE
Im Joballtag verwandelt sich die Macke zu einem untrüglichen Sinn für Perfektionismus. Bernd Justen ist als Vehicle Performance Manager für Kompaktklasse-Modelle zuständig, dazu gehört auch das passende Geräuschverhalten. Ihm und seinem zehnköpfigen Akustik-Team ist es gelungen, dem neuen Astra einen dynamischen Sound zu verpassen, und das bei ausgewiesener Laufruhe und einem minimierten Geräuschpegel im Innenraum.
„Fahrzeugakustik funktioniert wie ein Orchester: Großartige und erprobte Musiker spielen zusammen. Aber kommt nur einer aus dem Takt, dann ist der Effekt für das Konzert fatal.“
– Bernd Justen –
Vehicle Performance Manager
„Die Klangwelt in einem Auto ist deshalb eine diffizile Angelegenheit, weil sehr viele Faktoren das Gesamtresultat beeinflussen“, sagt Justen. Zum Beispiel könnte man sich wochenlang mit der richtigen Dicke von Fensterscheiben beschäftigen, „aber wenn dann auf einmal ein wüster Lärmmotor daherkäme, dann wären weder die Fensterscheiben noch die stärkste Stirnwandisolation in der Lage, das Produkt zu retten.“ Das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten ist für die Fahrzeugakustik das A und O. „Es ist wie bei einem Orchester“, erklärt Justen. „Da ist eine Ansammlung von Musikern, alle großartig und erprobt, aber kommt nur einer aus dem Takt, dann ist der Effekt für die ganze Truppe und das Konzert fatal.“
SIMULATION ENTWICKELT GUTE GENE
Verständlich also, dass Justens Akustikexperten – in der Mehrzahl Maschinenbauer und Mechatroniker – die gesamte Serienentwicklung des neuen Astra begleitet haben. Mehr als drei Jahre dauerte das Projekt. Dabei übernahmen sie in dem Moment, als die Vorausentwicklung beendet wurde. Da hatte der neue Astra bereits eine gewisse Reife, der Weg von der simulationsbasierten Grundauslegung zur Hardware war zurückgelegt. „Die ersten Prototypen des Astra K fuhren schon, und wir merkten sehr schnell, dass die gelegten Gene ausgezeichnet waren“, berichtet Klaus-Dieter Kramer. Er ist in Justens Team der Gruppenleiter, zuständig für die internen Abläufe und die Abstimmung mit anderen Bereichen.
„Die ersten Prototypen des Astra K fuhren schon, und wir merkten sehr schnell, dass die gelegten Gene ausgezeichnet waren.“
– Klaus-Dieter Kramer –
Gruppenleiter Akustik
„HAT DAS AUTO DIESEN GROOVE?“
Am Tag eins der Astra-Serienentwicklung stieg Kramer gemeinsam mit Bernd Justen und Akustik-Projektleiter Jürgen Schmitz in einen Prototypen. „Wesentlich ist, ein Verständnis dafür zu haben, wie der Charakter eines Modells sein soll“, sagt Kramer. „Der neue Astra ist als emotionales, athletisches Fahrzeug angelegt, das agil ist und gleichzeitig eine Effizienzsteigerung aufweist. Und wir fragten uns: Hat das Auto diesen Groove?“ Eine erste Antwort lieferte den Ingenieuren eine einstündige Ausfahrt auf unterschiedlichen Strecken –zunächst ganz ohne irgendwelche Checklisten abzuarbeiten.
„Der erste Eindruck: begeisternd“, sagt Projektleiter Jürgen Schmitz. Von da an ging es darum, das Fahrzeug in Sachen Akustik so zu verfeinern, dass es bereit für die Abnahmefahrten mit dem Vorstand und schließlich für die Kunden sein würde. Dafür sorgen nun maßgeblich die Turbobenziner und Turbodiesel der jüngsten Generation, die den Astra antreiben und dessen Erscheinungsbild auch hörbar machen. „Doch das ist nur ein Aspekt“, erklärt Schmitz. Die Akustik-Fachleute haben für den Astra eine umfangreiche und genau definierte Anforderungsliste abgearbeitet.
AKUSTIKER-BIOTOP: LABOR, DUDENHOFEN, VERKEHRSSTRASSEN
Performance Manager Bernd Justen: „Neben dem Motor-Sound und dem Rollgeräusch konzentrieren wir uns auch auf Punkte wie das Schließgeräusch der Türen oder die Lautstärke des Innenlüfters.“ Das natürliche Biotop seines Teams bilden außer der Mess-Strecke im Opel Test Center Rodgau-Dudenhofen ganz gewöhnliche Verkehrsstraßen – natürlich in getarnten Fahrzeugen. Doch bevor sie dort richtig loslegen, wartet jede Menge Arbeit im P25. In dem Gebäude in der Rüsselsheimer Zentrale befindet sich das Akustiklabor.
Hier wurde der Astra immer wieder auf große Rollen gefahren, die in den Hallenboden eingelassen sind. Sie erzeugen den gleichen Widerstand, den ein Fahrzeug auf der Straße durch Wind und Rollreibung erfahren würde. „So können wir ‚auf der Rolle‘ die gleichen Lastzustände fahren wie auf der Straße und wetterunabhängig sowie unter konstanten Rahmenbedingungen verschiedene Szenarien testen“, sagt Justen. Zu diesen zählen zum Beispiel das Leerlaufverhalten, die Start/Stop-Funktion sowie das Fahren unter Teil- und Volllast. Die hochempfindlichen Mikrofone nehmen dabei sämtliche Geräusche zur anschließenden Auswertung auf.
ANDERE FACHBEREICHE, GEMEINSAME LÖSUNGEN
Über die Arbeitsteilung innerhalb des Akustikteams sagt Gruppenleiter Klaus-Dieter Kramer: „Jeder von uns betreut ein Fachgebiet, also etwa Abgasanlagen, Isolation oder auch Fahrzeugarchitektur, wir analysieren den Ist-Zustand, und wo es noch nicht zu 100 Prozent passt, machen wir eine erste Ursachenanalyse, um im Anschluss die verantwortlichen Bereiche zu kontaktieren und mit ihnen gemeinsam Lösungswege zu ermitteln.“ Beim Motorgeräusch etwa sind es die Powertrain-Kollegen, bei dem Klang eines Tankdeckels ist es die Kraftstoffabteilung.
Der neue Astra hat die renommierte Auszeichnung „Goldenes Lenkrad 2015“ erhalten. Die Fachmedien, etwa „Auto Motor Sport“ in Deutschland und „Top Gear“ in Großbritannien, loben das Fahrzeug. Die Berichte füllen in Bernd Justens Büro bereits zwei Leitz-Ordner. Lässt ihn die Bestätigung für die Leistung entspannter Auto fahren? „Ehrlich gesagt, nein. Ich habe es versucht, aber wenn ich am Steuer sitze, dann gibt es nur das Husten der Flöhe und den puren Klang des Fahrzeugs – es hört sich wunderbar an.“
Was unter der Haube neu ist
Beim neuen Astra sind allein die Veränderungen unter der Haube bemerkenswert: Vorbildliche Laufruhe ist durch ein geräuschoptimiertes Motorblock-Design eingekehrt, bei dem unter anderem die Ölwanne zweigeteilt ausgeführt wurde. Als weitere Maßnahmen zur Verminderung des Geräuschpegels wurden der Abgaskrümmer schallgeschützt in den Zylinderkopf integriert, ein geräuschdämmender Ventildeckel konzipiert, die Hochdruckeinspritzventile entkoppelt und die reibungsarme Steuerkette auf leisen Rundlauf hin optimiert.
Stand Dezember 2015