Vielfalt als Stärke

Die beiden sind ein eingespieltes Team: Christian Achenbach und Martin Heyden steuern zielsicher auf einen Verteilerkasten zu. Batterien stehen dort aufgereiht, die bei einem Stromausfall die Notbeleuchtung in der Fertigungshalle am Laufen halten. Messgerät anschließen, Spannung checken, Daten notieren – es ist ein routinierter Ablauf. Wenn man es nicht weiß, fällt es kaum auf: Sobald Martin mit seinem Kollegen spricht, schaut er ihn dabei an. Denn: Christian Achenbach liest die Worte von den Lippen seines Teamkollegen ab. Zwar trägt er ein Hörgerät – „das sorgt dafür, dass ich etwa zu 60 Prozent höre“ – doch die Lippenbewegungen erleichtern es ihm, das Gesagte zu erfassen.

Christian, der mit einem Hörschaden zur Welt gekommen ist, gehört seit gut einem Jahr fest zum Rüsselsheimer Instandhaltungsteam von Gebäudeanlagen. „Ich fühle mich wohl bei Opel, sehr sogar“, sagt der 30-Jährige. Martin Heyden macht beiläufig ein paar schnelle Handzeichen. Der 22-Jährige hat einige Grundlagen der Gebärdensprache gelernt. Das Alphabet, die Zahlen. Mit einer Kombination aus beidem gebärdet er zum Beispiel die Gebäudebezeichnungen wie K 170. „Christian hat mir die wichtigen Handzeichen beigebracht“, sagt Martin und klopft mit der rechten Hand zuerst in die linke Armbeuge, macht dann eine Schnappbewegung. Es bedeutet „fauler Hund“. Die beiden lachen.

„Bei Opel habe ich mich von Anfang an wohl gefühlt – willkommen und wertgeschätzt.“

– Instandhalter Christian Achenbach –

Christian Achenbach (rechts) und Martin Heyden betreuen in den K-Bauten, also Rohbau, Fertigung, Presswerk und Lackiererei, die technischen Gebäudeanlagen.
Offenheit und Toleranz: Christian Achenbach wurde herzlich aufgenommen. Für Hürden in der Zusammenarbeit mit dem gehörgeschädigten Kollegen hat das Team simple Lösungen gefunden.
Zahlen und Alphabet: Für eine bessere Kommunikation hat Martin Heyden die Grundlagen der Gebärdensprache gelernt. 
Sie kommen überall rein: Die Instandhalter tragen Schlüssel für jegliche Fertigungsgebäude bei sich.
Digitales Arbeiten: Immer mehr Anlagenkomponenten sind mit QR-Codes versehen. Das erleichtert die Zuordnung und Abarbeitung von Aufträgen.

Bereits während seiner Ausbildung zum Mechatroniker war Christian einige Wochen im Instandhaltungsteam. „Schon damals zeichnete sich ab: Er ist ein fähiger, cooler Typ, der super ins Team passt“, sagt Meister Kai Becker. Als sich Christian nach seiner Ausbildung auf eine feste Stelle bewarb, hat sich Becker unter allen Bewerbern gezielt für ihn entschieden. Chancengleichheit und Inklusion – sie sind im Unternehmen bereits in weiten Teilen Alltag. Die Schwerbehindertenquote liegt aktuell bei gut neun Prozent. „Opel setzt sich seit vielen Jahren für ein inklusives Arbeitsumfeld ein, in dem alle Mitarbeitenden ihr Potenzial entfalten können“, sagt Opel-Arbeitsdirektor Ralph Wangemann.

Und doch ist es nicht überall und jederzeit selbstverständlich, Bewerbende und Mitarbeitende mit ihren individuellen Stärken zu sehen. „Daher setzen wir uns fortwährend für weitere Fortschritte ein“, sagt Wangemann. Dazu gehören bauliche Maßnahmen wie elektrische Türöffner oder ein Alarmsystem für gehörlose Personen. Für individuelle Lösungen arbeite man eng mit Partnern zusammen, so der Personalchef. Dazu gehören Schwerbehindertenvertreter, Betriebsrat, Werksärztlicher Dienst, Personalabteilung, Vorgesetzte, aber auch das Integrationsamt und der Integrationsfachdienst.

„Christians Gehör ist eingeschränkt – ja und? Irgendein Handicap haben wir doch alle.“

– Meister Kai Becker –

Flugvorbereitungen: Die Drohne ist mit Infrarotsensoren ausgestattet. Sie ermitteln, wo Wärme entweicht oder – wie im aktuellen Fall – wo eine Wasserleitung geplatzt ist.
Martin Heyden ist meistens mit Christian zusammen im Einsatz. Der Zusammenhalt im Team ist groß. Vor der Spätschicht etwa schlagen sie mit weiteren Kollegen regelmäßig Bälle in der Padel-Tennis-Halle.

Entsprechende Strukturen und Maßnahmen sind wichtig. Aber mindestens ebenso entscheidend ist der Wille aller Beteiligten, Vielfalt als Chance und als Stärke zu sehen. Mitarbeitende, die offen und tolerant auf Kollegen mit Handicap zugehen. Vorgesetzte wie Kai Becker, der sagt: „Christians Gehör ist eingeschränkt – ja und? Irgendein Handicap haben wir doch alle.“ Und so hat der Meister gemeinsam mit Christian und dem Team simple Lösungen gefunden. Christian darf Einsätze nicht allein wahrnehmen – die Instandhalter aber sind ohnehin immer in Zweier-Teams unterwegs. Videos mit Sicherheitseinweisungen sind mit Untertiteln versehen.

„Opel setzt sich für ein inklusives Arbeitsumfeld ein, in dem alle ihr Potenzial entfalten können.“

– Opel-Personalchef Ralph Wangemann –

Wer Christian anrufen möchte, macht das via Facetime, so dass er die Lippenbewegungen seines Gesprächspartners ablesen kann. „Bei wichtigen Gesprächen kann ich außerdem jederzeit einen Gebärden-Dolmetscher hinzuziehen“, ergänzt er. Dass vor allem das Mindset des Umfelds entscheidend ist, hat der 30-Jährige während seines Studiums zum Wirtschaftsingenieur erfahren. Die Grundvoraussetzungen waren gut. Die Lehrenden zum Beispiel haben in den Vorlesungen ein Mikrofon getragen, das Gesprochene wurde direkt aufs Hörgerät übertragen. „Und doch hatte ich Anpassungsschwierigkeiten, bin nie richtig angekommen“, sagt Christian.

Das änderte sich, als er sein Studium abbrach, um bei Opel eine Ausbildung zu beginnen. „Hier habe ich mich von Anfang an wohl gefühlt – willkommen und wertgeschätzt“, sagt er. Bereits beim Vorstellungsgespräch war ein Schwerbehindertenvertreter anwesend, bei Fragen kann er sich jederzeit an einen kompetenten Ansprechpartner wenden. Der Alltag von Christian im Instandhaltungsteam ist das, was gelungene Inklusion ausmacht: Sein Handicap ist – wenn überhaupt – nur eine kleine Randnotiz. Und das Team profitiert von einem Kollegen, der sein Potenzial und Know-how mit viel Engagement einbringen kann.


Dezember 2024

Text: Tina Henze, Fotos: Opel/Andreas Liebschner