„Als ich meine Heimat vor genau 26 Jahren
in Richtung Prag verlassen habe, da ahnte ich nicht im entferntesten,
dass ich, der Wartburg-Mann, nach über zwei Dekaden
als Opel-Kollege an die alte Wirkungsstätte nach Eisenach
zurückkehren würde. Nicht nur aus damaliger Sicht:
Ein kleines Wunder.“
— Frank Hendrich —
Die deutsch-deutsche Geschichte des Kollegen Frank Hendrich beginnt im September 1989. Es ist die Zeit, in welcher der Ostblock heftig bröckelt. Der einst penibel gepflegte Garten der westdeutschen Botschaft in Prag ist ein Schlammfeld. Darin steht seit Wochen ein Zeltlager, es beherbergt DDR-Flüchtlinge. Jeden Tag klettern mehr über die Zäune der diplomatischen BRD-Vertretung in der Tschechoslowakei. Die Zukunft dieser Menschen ist ungewiss. Unter ihnen befindet sich Frank Hendrich. Er ist 18, Lackierer und beim AWE beschäftigt, dem Automobilwerk Eisenach, Produktionsstandort der Marke Wartburg. In der Hauptstadt der CSSR sucht Hendrich einen Weg in die Freiheit, in die Bundesrepublik. „Ich war jung und hungrig nach Leben“, berichtet er. Das Leben, das er ebenso wie Millionen seiner Mitbürger anstrebt, kann das System hinter dem Eisernen Vorhang nicht bieten. „Viele meiner Freunde und Arbeitskollegen haben rübergemacht, ich wollte nicht der Letzte sein, der das Licht ausmacht.“
Autostadt Eisenach
1896 gründet der Industrielle Heinrich Ehrhardt die Fahrzeugfabrik Eisenach. Hergestellt wurden Geschütze, Fahrräder und ab 1898 der Wartburg-Motorwagen. Mit 1.300 Mitarbeitern gehörte das Werk Ende des 19. Jahrhunderts zu Thüringens Großbetrieben. 1904 erhielten die Fahrzeuge den neuen Markennamen Dixi. 1928 wurde das Werk von der Bayerischen Motoren Werken AG übernommen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es verstaatlicht und erhielt den Namen VEB Automobilwerk Eisenach. Ab 1955 wurde hier der Wartburg produziert – insgesamt gut 1,6 Millionen Fahrzeuge. 1991 wurde das AWE von der Treuhandanstalt geschlossen. Gleichzeitig eröffnete Opel ein Werk in Eisenach und führte damit die Tradition der Autoindustrie in Thüringen fort.
„WIR SIND HEUTE ZU IHNEN GEKOMMEN…“
Die Tage in der BRD-Botschaft erlebt Hendrich als Abenteuer. Kleine Reisetasche, kein Geld, Decken und Essen vom Roten Kreuz. Er, der zuhause ein Rebell war, einer mit Wrangler-Jeans, Adidas-Turnschuhen und großer Klappe, bangt und hofft nun. Auf einen letzten starken Impuls, der das Ende der DDR einleitet. Am 30. September ist es soweit. Im Schein einer hastig herbeigeschafften Stehlampe tritt kurz vor 19 Uhr Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der Prager Botschaft. Per Megafon verkündet der bundesdeutsche Außenminister: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“. Weiter kommt Genscher nicht. Der Jubel von über 5000 Flüchtlingen, darunter Hendrich, unterbricht ihn.
Jeden Tag klettern mehr Ausreisewillige über die Zäune der diplomatischen BRD-Vertretung in der Tschechoslowakei in die Prager Botschaft.
„Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ – Hans Dietrich Genscher, damaliger Bundesaußenminister, auf dem Balkon der Prager Botschaft.
Noch in der Nacht steigt Hendrich in einen der Züge, die nach Hof im bayerischen Oberfranken fahren. Von dort aus geht es in ein Auffanglager in Lübeck. „Überall Umarmungen, Küsse, Sekt“, erinnert sich Hendrich. „An der Strecke hielten Menschen Plakate hoch, grüßten uns, die Ankömmlinge, hießen uns willkommen. Es war für uns alle ein Rauschgefühl. Unglaublich.“ Seine Westdeutschland-Odyssee führt ihn schließlich in ein Camp des Technischen Hilfswerks, ins Herz des Ruhrpotts – nach Gelsenkirchen. Inzwischen besiegelt die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 den endgültigen Zerfall des politischen Systems der DDR. In Gelsenkirchen fällt Hendrich eine Zeitungsannonce in die Hände: Der Autobauer Opel sucht Fachkräfte für den Standort Bochum. „Ich bin sofort die 15 Kilometer zum Werk gelaufen, hier und da auch mal mit der Straßenbahn schwarzgefahren.“
NEUBEGINN IM WERK BOCHUM
Im Opel-Personalbüro hat Hendrich zwar keinen schriftlichen Lebenslauf und auch kein Bewerbungsschreiben. Dafür einen Facharbeiterbrief und eine halbe Stunde, um sich vorzustellen. Er wird genommen. Sein erster Arbeitstag ist der 2. Januar 1990. „Prompt kam ich zu spät, weil ich mich auf dem riesigen Gelände verirrt habe. Die Werkswache brachte mich unter einigem Gelächter in meine Abteilung.“
Von Wartburg zu Opel
Im März 1990, rund ein halbes Jahr nach Frank Hendrichs Ausreise, vereinbaren das Automobilwerk Eisenach (AWE) und die Adam Opel AG eine Zusammenarbeit und den Aufbau eines Eisenacher Opel-Werks. Aus dem sozialistischen Autohersteller wird ein Werk des amerikanischen GM-Konzerns. Im Dezember 1990 erwirbt Opel ein neues Grundstück in Eisenach, um dort ein neues Automobilmontagewerk zu errichten. Im Februar 1991 ist Grundsteinlegung, im September Richtfest und nur ein Jahr später am 23. September 1992 startet die Produktion der Modelle Astra und Corsa. Zeitgleich wird das Automobilwerk Eisenach abgewickelt und die Produktion des Wartburg eingestellt.
Es ist einer der wenigen Momente, in denen Frank Hendrich im neuen Umfeld fremdelt. „Klar“, sagt er, „ich hatte anfangs vor allem Angst, Zweifel und Heimweh.“ Westdeutschland, Nordrhein-Westfalen – „das war damals eine ganz andere Welt für mich.“ Doch der Zusammenhalt unter den Opelanern imponiert ihm und macht Mut. Schon in der ersten Woche bekommt Hendrich nach Feierabend Besuch von einigen Arbeitskollegen. Als sie sehen, wie spartanisch sein Apartment eingerichtet ist, heißt es nur: Morgen zur gleichen Zeit sind wir wieder da. „Die Jungs rückten mit Fernseher, Bettwäsche und Küchenequipment an. Ich hatte Tränen in den Augen.“ Die Kollegen helfen gern. „Das Ossi-Wessi-Getue, das es damals gab, darauf hatten wir keine Lust, wir waren Opelaner“, schickt er hinterher.
Am 3. Oktober 1990 wird die Deutsche Einheit vollzogen. In den 90er-Jahren fährt Hendrich aus familiären Gründen häufiger nach Thüringen. Der Gedanke an einen Standortwechsel wird immer konkreter. 2012 schließlich kommt er zu Opel Eisenach. Was er nach 22 Jahren im Westen der Republik mitgebracht hat? „Vor allem das, was ich in Bochum selbst erfahren durfte: Offenheit, ein Zugehen auf andere Menschen und Hilfsbereitschaft.“
Vectra aus Eisenach
Am 5. Oktober des Jahres 1990 läuft der erste Vectra „Made in Eisenach“ vom Band. Der Bandablauf nur zwei Tage nach Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist das Medienereignis. Als Ehrengast begrüßt der damalige Opel-Vorstandsvorsitzende Louis R. Hughes Bundeskanzler Helmut Kohl. In seiner Rede bezeichnete der Kanzler das Opel-Engagement als „Signal für Investitionen in den neuen Bundesländern“.
Ein ausgeklügeltes Logistiksystem macht den schnellen Produktionsstart in Eisenach möglich. Alle zwei Tage fährt ein Zug mit den Vectra-Teilen – etwa 1.000 pro Fahrzeug – für die Montage von Rüsselsheim nach Eisenach. Die Waggons sind beladen mit Rohkarosserien, die in Rüsselsheim gefertig wurden, und Teilesätzen aus Kaiserslautern und Bochum. In Eisenach werden sie montiert.
Bundeskanzler Kohl am 5. Oktober 1990 beim Bandablauf des ersten Vectra „Made in Eisenach“.
Opel Eisenach heute
Heute ist das Opel-Werk Eisenach hinsichtlich Umweltverträglichkeit, Fertigungstechnologie und Produktionssystem (GM Global Manufacturing System) eines der modernsten Automobilwerke der Welt. Mehr als 1400 Mitarbeiter fertigen hier die Modelle Corsa, ADAM, ADAM ROCKS und ADAM S. Damit ist Opel der einzige Hersteller, der zwei Kleinwagen am Standort Deutschland nicht nur entwickelt hat, sondern sie auch hier baut.