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„Massenware ist nicht unser Ziel, unsere Möbel sollen exklusive Produkte bleiben.“
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Raumtemperatur – niedrig, Authentizitätsfaktor – hoch. Die Hinterhof-Werkstatt in Aschaffenburg atmet den Geist vergangener Tage. Hier basteln junge Kreative an ihren Träumen. Die Einscheibenverglasung der hohen Fenster ist an vielen Stellen gesprungen, ausgebessert, mit Graffiti besprüht. Von nebenan dringen Musik und Gespräche herüber. „Die Werkstatt gehört Freunden, wir dürfen sie zeitweise nutzen“, erklärt Anne-Sophie Schwarz (27), während Christine Herold (28) einige Plastikstühle herbeiholt. Hier entwickeln die beiden Diplom-Designerinnen Ideen und Prototypen zum Thema Upcycling: Sie hauchen gebrauchten oder vermeintlich nutzlosen Dingen neues Leben ein. Für ihre stylishen Sitzmöbel verarbeiten die beiden – Airbags.
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„Unsere Idee war, etwas aus Autoteilen zu machen.“
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Schatzsuche auf dem Schrottplatz
Im Frühjahr 2015 hatten sich Christine Herold und Anne-Sophie Schwarz an einem von einer Fachmesse ausgeschriebenen Wettbewerb beteiligt. Das Thema, Upcycling mit Textilien, hatte beide schon in ihrem 2014 beendeten Industriedesign-Studium an der Hochschule Darmstadt beschäftigt. „Unsere Idee war, etwas aus Autoteilen zu machen“, erzählt Anne. Also ab auf den Schrottplatz – zur Schatzsuche. „Als wir einen Airbag aus einem Lenkrad heraushängen sahen, fanden wir das Material auf Anhieb interessant.“
Vom Schrottplatz brachten sie noch mehr vielversprechende Teile mit. Das folgende kreative Ausprobieren mündete in einen aus alten Fahrzeugteilen komponierten Hocker: zwei miteinander verschraubte Traktorlenkräder, das obere mit Sicherheitsgurten bespannt und von einem zum Sitzkissen umfunktionierten Airbag gekrönt. Ein absoluter Hingucker. „Dafür bekamen wir viel positive Rückmeldung und Auszeichnungen“, erzählt Christine. Dadurch ermutigt, arbeiteten Anne und Christine ihr Konzept aus. Sie machten sich selbstständig und gaben ihrem Projekt den Namen „Studio Knuy“. Wobei das knuffige Knuy nicht etwa der Nomenklatur eines schwedischen Möbelhauses entlehnt, sondern eine Eigenkreation ist. Christine klärt auf: „Es stammt vom englischen Wort für Schrottplatz, junk yard. Junk rückwärts und fusioniert mit yard ergibt: knuy.“
Materialbeschaffung birgt Sprengstoff
Doch der erste Rückschlag folgte prompt: Es hakte an der Materialbeschaffung. „Die Lenkräder werden nur sehr selten angeboten. Wir haben sie einzeln im Internet ersteigert“, sagt Christine. Noch komplizierter lag die Sache mit den Airbags. Damit sich die Prallsäcke im Ernstfall binnen Millisekunden aufblasen, enthalten sie Sprengstoff; sie dürfen nur von geschultem Personal ausgebaut werden. „Wir mussten die Airbags sprengen lassen und mehrmals waschen, um die Rückstände der Chemikalien zu entfernen“, erklärt Christine. Das war gefährlich, aufwendig, teuer und wenig ökologisch. Ihre Geschäftsidee stand auf der Kippe. Aber aufgeben? Kam nicht in den Luftsack.
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„Der Kollege dort hat sofort den Kofferraum vollgeladen und den beiden eine Ladung Ausschussware vorbeigebracht.“
Uwe Ruster
Lead Engineer Recycled/Sustainable Materials
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„Bei der Recherche sind wir irgendwann bei Opel gelandet und hatten Uwe Ruster am Telefon“, erzählt Anne. Das sollte der Wendepunkt werden. Der Lead Engineer Recycled/Sustainable Materials in Rüsselsheim mochte die Idee der aufgemöbelten Autoteile, fand die Urheberinnen sympathisch – und hatte einen heißen Tipp. „Wir arbeiten mit Betrieben zusammen, die in der Produktion anfallendes fehlerhaftes Airbag-Material aufkaufen und verarbeiten“, erklärt Ruster. Er stellte den Kontakt zu einem Airbag-Zulieferer her. „Mich kostete das nur einen Anruf, aber die beiden hat es weitergebracht.“ Beim Zulieferer stieß die Anfrage auf offene Ohren, weiß Uwe Ruster: „Der Kollege dort hat sofort den Kofferraum vollgeladen und den beiden eine Ladung Ausschussware vorbeigebracht.“
Zweites Leben für verhinderte Luftsäcke
„Uwe Rusters Hinweis und der Materialnachschub waren für uns Gold wert“, sagt Christine. Als sicherheitsrelevantes Bauteil wird das Material schon durch kleine Web- oder Nähfehler ungeeignet. Als trendiger Kissenbezug taugt der Ausschuss allemal noch. „Die Pastellfarben und die farblich abgesetzten Nähte passen uns super ins Konzept“, sagt Anne und reicht Kissenbezüge in hellem Blau, Grau und Rosa herüber. Das fabrikneue Airbag-Textil muss nicht erst auf Schrottplätzen aufgespürt und ausgebaut, gesprengt und gereinigt werden. Für sein zweites Leben bringt das Material ideale Eigenschaften mit: Es ist hochwertig und robust, gut zu verarbeiten, wasserabweisend, abwaschbar, lässt sich färben und fühlt sich gut an. Unter den Händen von Christine und Anne werden die verhinderten Luftsäcke zu stilvollen Bezügen für Kissen oder Polster.
Vorliebe für Vorleben bei Opel
Um den Anteil der Werkstoffe aus aufbereitetem Altmaterial in Neufahrzeugen zu erhöhen, entwickelt Opel bereits seit 1990 clevere Recycling-Ideen – und gilt auf diesem Feld als Vorreiter der Branche. Seit 2015 müssen 95 Prozent des durchschnittlichen Fahrzeuggewichts wiederverwendbar oder verwertbar sein. Die Altfahrzeugrichtlinie der EU (2000/53/EG) regelt diese stoffliche Verwertung von Kraftfahrzeugen.
Abfälle sollen dadurch vermieden und deren Recycling ausgeweitet werden. In der Automobilfertigung werden viele Kunststoff-Rezyklate eingesetzt – so bezeichnet man die Produkte eines Recyclingprozesses. Altmaterial oder Reststoffe werden in kleinste Bestandteile zerkleinert und gereinigt, um sie anschließend wieder als Rohstoffe einzusetzen. Wiederaufbereitet lassen sie sich je nach Einsatzzweck in verschiedenen Mischungen zu neuen Bauteilen verarbeiten. Häufig bildet Granulat das Ausgangsmaterial, aus dem Zulieferer per Spritzgussverfahren neue Komponenten herstellen – selbstverständlich exakt gemäß der Spezifikationen. Das aus Altmaterial gewonnene Granulat lässt sich mit geringerem Energieaufwand verarbeiten. So kommt das wiederverwertete Material direkt Umwelt und CO2-Bilanz zugute.
Für Rezyklate gelten keine anderen Vorgaben und Standards als für Neumaterial; ihre Qualität ist daher sehr hoch. Intelligent entwickelt, können die Komponenten in ihrem zweiten Leben sogar bessere Materialeigenschaften aufweisen als Neumaterial. Sie werden überall dort eingesetzt, wo es technisch sinnvoll und möglich ist. In den aktuellen Modellen mit dem Blitz kommen mehr als 220 Rezyklate zum Einsatz.
Alleine im neuen Astra werden mehr als 200 Rezyklat-Komponenten verbaut. Der Wasserabweiser zwischen Windschutzscheibe und Fronthaube hat genauso ein Vorleben wie die Stoßfängerbefestigungen oder das Saugrohr. In den Opel-Werken können jährlich bis zu 45.000 Tonnen Rezyklate in der Produktion von Neuwagen eingesetzt werden.
Anfangs konnte Studio Knuy nur Einzelstücke liefern; jetzt ist mehr möglich. „Es gibt den Ausschuss sogar als Meterware auf Rollen“, erzählt Anne begeistert. Inzwischen beliefert sie ein Airbag-Zulieferer aus dem Frankfurter Raum. Außerdem kooperiert das Start-up mit dem Frankfurter Verein für soziale Heimstätten e.V., einer Einrichtung, in der Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen arbeiten. In einer zugehörigen Reha-Werkstatt werden die Kissenbezüge genäht. „Aber Massenware ist nicht unser Ziel“, erklärt Christine. „Unsere Möbel sollen exklusive Produkte bleiben.“
Kurze Wege und sozialer Touch
Von ihrem Projekt leben können die beiden noch nicht, sagt Anne: „Aber wir sind jetzt gut aufgestellt, können auch größere Aufträge übernehmen und haben mehr Planungssicherheit.“ Momentan bewegen sie sich weniger in der Werkstatt als auf unternehmerischem Neuland. „Wir treffen uns mit potenziellen Kunden und Vertriebspartnern, beschäftigen uns mit Broschüren und Preisgestaltung“, sagt Anne. „Das haben wir an der Hochschule zwar nicht gelernt, aber es ist spannend und macht Spaß!“
Das neueste Produkt aus dem Studio Knuy sind modulare Loungemöbel aus gepressten Holzabfällen. Die sogenannten ESB-Holzplatten sind außerordentlich fest. Bearbeitung, Lasur und die Kombination mit Kissen und Polstern aus Airbag-Textil machen sie zu flexiblen, smarten Möbeln. Christine Herold und Anne-Sophie Schwarz arbeiten nun darauf hin, dass ihre Möbel in Einrichtungskataloge aufgenommen werden. „Aufträge für Bars, Lounges oder Messestände – das wäre ein Traum!“, sagen beide. Nicht gar so unwahrscheinlich also, dass man die Airbag-Kissen demnächst im Adam-Opel-Haus oder auf Automobilmessen findet.