Kapitel 1: Aufbruch in Bulgarien
Sofia, 20. Oktober 2016. Es ist der Beginn unserer langen Reise. Nach Indien. Mit unserem Opel Rekord E 2.0 S. Zunächst machen wir eine kleine Tour durch Bulgarien, nur um zu sehen, ob alle Reparaturen an meinem Opel korrekt ausgeführt wurden. Und um uns von unseren Verwandten zu verabschieden. Besonders glücklich sind die nicht, dass wir unser erstes Baby in Indien auf die Welt bringen wollen – und noch dazu die Reise in unserem betagten Gefährt, Baujahr 1979, zu machen! So ganz glauben sie es auch nicht. Einmal fragt Sabinas Mutter, was wir denn während der Fahrt essen würden. Sabina antwortet, wir hätten ausreichend Kartoffeln und Paprikas dabei, und auch einen kleinen Kocher, mit dem wir uns Essen unterwegs warm machen könnten. „Im Flugzeug?“, fragte Sabinas Mutter erstaunt. „Nein, Mutter“, antwortet Sabina geduldig, wir fahren mit unserem Auto.“ „Tatsächlich? Das habe ich gar nicht so mitbekommen.“
Als ich meinen Opel Rekord bekam, war er in einem erbärmlichen Zustand. Aber mithilfe einiger Leute, die noch alte Ersatzteile hatten, bekamen wir ihn zum Laufen. Es war schwierig, jemanden zu finden, der sich an das Auto herantraute. Nach einigen Versuchen fand ich schließlich Teo, der sich sehr gut mit Fahrzeugen dieser Art auskannte. Auch er versuchte anfangs, mir das Ganze auszureden. Über eine Stunde hatten wir miteinander in seiner Werkstatt diskutiert, bis seine Frau hereinkam und zu ihm sagte: „Teo, warum willst Du das Geld dieses Kunden nicht annehmen? Schau doch, er liebt sein Auto. Kannst Du es reparieren oder nicht?“ So begann meine Freundschaft mit Teo. Er gab mir mein Auto erst wieder zurück, als alle Reparaturen nach seinen Vorstellungen korrekt ausgeführt waren. Die fixe Idee von einer Reise nach Indien mit unserem alten Opel Rekord begann, realistischer zu werden.
Warum ausgerechnet Indien, mag manch einer fragen. Und warum ausgerechnet dort das erste Kind zur Welt bringen? Und warum mit dem Auto, noch dazu mit einem alten Opel? Wir lieben Indien, auch wenn die Menschen dort zuweilen ein wenig anstrengend sein können – vor allem, wenn sie Auto fahren. Den Plan, nach Indien zu fahren, hatten wir schon lange. Dass dort unser Kind zur Welt kommen würde, ist ein erwarteter Zufall. Im April 2016 hatten wir unsere Jobs in Deutschland und unsere Wohnung in Gauting bei München aufgegeben, um nach Indien zu gehen. Unser Baby wollte nicht darauf warten, bis wir dort sind. Sabina wurde schwanger, und als wir aufbrechen, ist sie im siebten Monat.
Am 27. Oktober, ein sonniger Tag, geht es endlich los. Geplant ist, am ersten Tag über wenig befahrene Straßen und über Griechenland in die Türkei zu gelangen anstatt die vielbefahrenen bulgarischen Straßen zu benutzen. Irgendwo zwischen Edrine und Istanbul wollen wir dann übernachten. Unser erster Grenzübertritt in Ivaylovgrad nach Griechenland ist ein Kinderspiel: Die griechischen Grenzbeamten überprüfen Teile unseres umfangreichen Gepäcks. Als sie unsere Kartoffelvorräte im Kofferraum sehen, fragen sie, wo wir hinfahren. Nach der Antwort herrscht einen Moment lang irritiertes Schweigen, dann lassen sie uns durch.
Kartoffeln im Kofferraum
Die Fahrt durch Griechenland ist kurz, nach etwa 40 Kilometern erreichen wir den griechisch-türkischen Grenzübergang bei Kastanies. Erneut werden wir kontrolliert und werden gefragt, wohin wir wollen. Der Grenzbeamte kann kaum glauben, wie viel Gepäck wir dabeihaben. „Wir haben hier keine Zeit, Ihr ganzes Gepäck zu kontrollieren.“ Wir sollen allen Ernstes zurück nach Swilengrad hinter die griechisch-bulgarische Grenze. Die Leute, die unser Fahrzeug dort kontrollieren, glauben nicht, dass wir es bis nach Indien schaffen. Wir glauben es gerade auch nicht: Weiter als 20 Kilometer sind wir heute noch nicht in die Türkei hineingekommen! Endlich dürfen wir weiterfahren. Bei Sonnenuntergang erreichen den Stadtrand von Edrine.
Kapitel 2: Von der Türkei in den Iran
Am nächsten Tag durchqueren wir Istanbul im Schneckentempo. Im Dauerstau schaffen wir etwa 50 Kilometer in fünf Stunden. Doch am Ende des Tages erreichen wir Hereke und schlagen in einem Park am Meer unser Zelt auf. Auf den neuen türkischen Straßen läuft der Opel Rekord wie eine Nähmaschine. Wir folgen der Autobahn D100, die uns bis nach Doğubeyazıt an der iranischen Grenze führen soll. Hinter Bolu klettert die Straße bis auf eine Höhe von 1.000 Metern und bleibt auf diesem Niveau bis zur iranischen Grenze. Das Wetter ist ideal zum Campen: Die Sonne wechselt sich ab mit Wolken, nur leichter Sprühregen und Wind. Dazu tiefe Schluchten, kahle Steilhänge und weite Flusstäler mit Pappeln, alles in den Farben des Herbstes getaucht, ebenso wie das gelbe trockene Gras. Wir campen in der Nähe von Dörfern. Die Menschen, denen wir begegnen, sind sehr freundlich und großzügig.
Zu Gast bei Herrn Haji Emin
Wir durchqueren die Türkei in sechs Tagen. Am fünften Tag haben wir ein paar kleinere Probleme mit dem Auto, können diese aber vor Ort lösen. Am Ende des fünften Tages biegen wir kurz hinter Horasan rechts von der Hauptstraße ab und folgen für ein paar Kilometer einer Schotterpiste bis in ein von kargen Hügeln umgebenes Dorf. Wir sind in Yarboğaz. Ein paar bärtige Männer sitzen in der Abendsonne. Wir fragen einen von ihnen, ob wir in dem nahegelegenen Garten unser Zelt aufschlagen dürfen. Der Mann spricht nur Kurdisch und ruft laut „Haji Emin“. Herr Haji Emin, ein Mann mit Schnurrbart und borstigen Haaren, kommt aus dem Haus, zu dem der Garten gehört. Er hat nichts dagegen, dass wir unser Zelt in seinem Garten aufbauen. Ich frage, ob meine Frau sein Badezimmer benutzen dürfe. Sie darf eintreten. Ein paar Minuten später sitzen wir in Haji Emins Haus, er hat uns eingeladen, zu Tee, später kommen ein paar Snacks hinzu, dann ein leichtes Abendessen aus traditionellem Fladenbrot, Joghurt und gebackenen Kartoffeln. Schließlich lädt er uns ein, in seinem Gästezimmer zu übernachten, einem Zimmer mit bequemen Sofas, dicken Teppichen, Schränken und mit Bildern an den Wänden, die ihn während seiner Pilgerreise nach Mekka zeigen.
Wir haben Glück, nicht in unserem Zelt übernachten zu müssen, sondern in Haji Emins Gästezimmer. Denn der nächste Morgen in Yarboğaz ist weiß. Der Regen des letzten Abends hatte sich über Nacht in Schnee verwandelt. Bislang waren wir schnell genug gewesen, um der Schneefront zu entwischen. Nun, am letzten Tag vor der iranischen Grenze, hat sie uns doch noch eingeholt. Ein Schneetag erwartet uns. Und es schneit weiter. Zwischen Yarboğaz und Doğubeyazıt klettern wir mit unserem Opel auf über 2.000 Meter Höhe. Die größte Schwierigkeit besteht darin, immer in den Spuren zu bleiben, die die zahlreichen Lastwagen in den nassen Schnee ziehen, und den Eisplatten auszuweichen, die von ihren Verdecken fallen. Auf der Gegenspur sehen wir viele Autos, die sich mühsam durch den Schnee kämpfen, manche auch erfolglos. Schließlich erreichen wir Doğubeyazıt. Die Sicht ist so schlecht, dass wir den mächtigen Berg Ararat gar nicht sehen, obwohl sein Gipfel mehr als 5.000 Meter hoch ist. Die türkisch-iranische Grenze empfängt uns mit einem großen Durcheinander: Es bleibt zunächst unklar, wohin wir fahren und was wir dort tun sollen. Ein türkischer Grenzpolizist hilft uns mit den Formalitäten. Diese werden auf der iranischen Seite noch viel komplizierter, aber ein findiger und hilfsbereiter Mann hilft uns gegen eine Bezahlung von 20 Euro innerhalb von schlanken 15 Minuten durch alle Kontrollen.
Kapitel 3: Durch den Iran
Die erste Stadt hinter der iranischen Grenze ist Maku. Wir erreichen sie in der Abenddämmerung: Der Straßenverkehr ist wild und verwirrend, nasse Straßen, unbeleuchtete Autos, schwarz gekleidete Menschen, die die Straßen überqueren, ohne sich vorher umzusehen. Da es immer dunkler wird, entscheiden wir uns, unsere erste Nacht auf iranischem Boden in einem Hotel zu verbringen. Ein iranischer Freund hat uns einmal erzählt, dass Autofahren im Iran hundertmal gefährlicher als in Italien und zehnmal so gefährlich sei wie in der Türkei. Nach ungefähr einem Tag kenne ich die Gewohnheiten der iranischen Autofahrer. Worauf man aber immer achten muss, sind ihre überraschenden Wendemanöver. Aber ansonsten fahren sie eher zögerlich und zurückhaltend; die meisten fahren so, als ob sie nicht wüssten, wo sie hinwollen. Auf den iranischen Autobahnen kommt man gut voran, während man in den Städten mit OSM-Navigationsgeräten schnell Schwierigkeiten bekommt, da die vorhandenen Karten weder besonders präzise noch aktuell sind. In den kommenden Tagen zelten wir, oder wir übernachten in den Häusern von Menschen, denen wir begegnen. Der Iran ist ein extrem gastfreundliches Land. Und ein wunderschönes dazu. Sobald unser Kind groß genug zum Reisen ist, werden wir sicherlich wiederkommen.
Würdigung des Anlassers
Als wir in Karadsch bei Teheran ankommen, beschließen wir, eine Werkstatt aufzusuchen, um den Anlasser unseres Opel Rekord reparieren zu lassen. Er funktioniert manchmal nicht, und bislang ist es mir immer gelungen, ihnen mit ein paar sanften Hammerschlägen wieder zum Laufen zu bringen. Dennoch ist eine Reparatur notwendig. Der Automechaniker nimmt ihn komplett auseinander, reinigt ihn und erklärt dann, es gäbe heutzutage keinen so guten Anlasser auf dem Markt wie diesen. Nach der Reinigung und diesem Lob hat er nie wieder gestreikt, und auch der Hammer ist nie wieder zum Einsatz gekommen. Von Karadsch aus fahren wir in den nächsten fünf Tagen in Richtung der Stadt Bam. In einem Dorf namens Hormag enden wir in einer Sackgasse, obwohl uns unser GPS glauben ließ, von dort aus würde eine Straße nach Bam führen, an das Ziel unserer heutigen Etappe. Eigentlich wollen wir nicht umkehren. Als wir an einem Polizeiposten vorbeikommen, sagt man uns, es gäbe eine unbefestigte Straße, zu der man uns leiten wolle. Wir willigen ein und folgen dem Polizei-Jeep durch eine fantastische Landschaft, in der die Hügel in nahezu allen Farben von rostrot bis blau leuchten. Wir sind inmitten einer Wüste, aber die Straße ist nicht so schlecht, an manchen Stellen ist sogar richtig etwas los. Manchmal besteht sie aus Kies, manchmal nur aus Sand, der Opel rutscht und gleitet, aber er hält die Spur, wenngleich der Motor an seine Grenzen kommt, nicht nur wegen der Hitze, sondern auch wegen des Staubs, den der vor uns fahrende Jeep aufgewirbelt. Doch die einzigartige Landschaft entschädigt. Dies ist die mit Abstand faszinierendste Wegstrecke, die wir im Iran erkunden. Nahe der 77.000-Einwohnerstadt Bam campen wir in der Wüste: Es ist eine ruhige Nacht, unter einem fast vollen Mond und Sternen, die den Himmel erleuchten.
Am nächsten Tag fahren wir weitere 340 Kilometer auf der wunderbar asphaltierten Wüstenstraße bis nach Zahedan. Über mehrere Stunden sehen wir kein einziges Fahrzeug. Wir beginnen, Kamelkadaver am Straßenrand zu zählen, da es sonst nur wenig zu zählen gibt. In der Abenddämmerung und unter einem großen gelben Mond erreichen wir Zahedan, eine Stadt des Verbrechens, der Drogen und des Geldes, mit rund 560.000 Einwohnern, kurz vor der iranisch-pakistanischen Grenze. Glücklicherweise haben wir Freunde hier: Wir übernachten bei ihnen und laden unsere Kräfte und Vorräte auf für die anstehende Fahrt nach Pakistan. Auf unserer Fahrt durch den Iran hatten wir keinerlei Schwierigkeiten. Das sollte sich ändern.
Kapitel 4: Mit Polizeieskorte durch Belutschistan
Auf dem Weg von Zahedan zur pakistanischen Grenze kommen wir an einer Polizeikontrolle vorbei. Die Polizisten kontrollieren unsere Pässe. Die Wände des kleinen Büroraumes, in den wir gebeten werden, sind über und über mit antiamerikanischen Sprüchen beschriftet. Dem Polizisten gefällt die Idee ganz und gar nicht, uns nach Pakistan weiterzulassen, schließlich lässt er uns aber ziehen. In Mirjaveh kurz vor der Grenze füllen wir den Tank unseres Opel Rekord bis zum Anschlag. Kurz darauf werden wir aufgefordert, einem mit schwer bewaffneten Soldaten besetzten Militärfahrzeug bis an die Grenze zu folgen. Dort werden wir, unsere Papiere und unser Opel untersucht und schließlich weitergelassen. Wir überqueren die Grenze und werden auf pakistanischer Seite sogleich wieder Sicherheitsbeamten übergeben. Nach mehreren Stunden in mehreren Baracken vor mehreren untätigen Grenzpolizisten geht es endlich weiter. Dieses Mal folgen wir einem Grenzwächter, der uns per Motorrad zu einem wenige Kilometer entfernten Militärposten lotst, der komplett mit einer hohen Mauer und mit Stacheldraht umgeben ist. Durch ein Tor aus Metall werden wir hereingebeten. „Sie bleiben hier“, sagt uns unser Aufpasser in einfachem Englisch, fast ein wenig scheu. „Sie fahren morgen weiter.“ „Warum erst morgen? Es ist doch erst halb drei. Warum sollen wir warten?“, frage ich leicht aufgebracht. „Sie werden morgen nach Dalbandin eskortiert. Es ist nicht erlaubt, alleine durch Belutschistan zu reisen.“
Ich parke unser Auto innerhalb des Stützpunktes hinter einer Reihe langsam verrostender Fahrzeuge. Der Leiter stellt uns sein Büro zur Verfügung und weist uns an, dieses nicht zu verlassen. Mir wird klar: Dies ist kein einfacher Stützpunkt, es ist eine Art Gefängnis mit verschließbaren Zellen, zwei Büros und einem Raum für die Soldaten. Wir warten
Luxus trifft auf Hoffnungslosigkeit
Gegen 20 Uhr kommt plötzlich Bewegung in die Szenerie: Mehr als 100 staubige und müde aussehende Männer werden von ein paar Soldaten hereingebracht, manche mit Taschen oder Rucksäcken, manche auch ohne. Es sind illegale Migranten, die soeben aus der Türkei deportiert worden sind. Sie sind hungrig, und wir teilen mit ein paar von ihnen unser Brot. Wir kommen ins Gespräch: Sie wollen es wieder über die Grenze versuchen. Sie wollen ihrem ärmlichen Leben in Pakistan entfliehen und sehnen sich nach dem Reichtum des Westens. Ein paar Stunden bleiben sie noch in diesem Übergangs-Gefängnis, bevor sie ein Bus zum nächsten Stützpunkt befördert. Wir gehen schlafen, traurig und verwirrt. Der Westen zieht den Osten an, Menschen von beiden Seiten drängen in entgegengesetzte Richtungen und treffen hier aufeinander, die einen auf einer Luxusreise, die anderen in tiefer Hoffnungslosigkeit.
Seit Taftan, der ersten pakistanischen Stadt hinter der Grenze, dürfen wir uns nur in Begleitung von Sicherheitskräften bewegen. Die pakistanische Regierung legt sich mächtig ins Zeug und überlässt nichts dem Zufall: Alle Touristen werden durch Belutschistan eskortiert. Üblicherweise folgen wir tagsüber einem Polizeifahrzeug. Alle 30 bis 50 Kilometer lösen sich unsere Begleiter ab, dann heißt es anhalten und warten, bis die nächste Etappe beginnt. Wir verlieren wertvolle Zeit. Am ersten Tag schaffen wir es bis nach Dalbandin. Dort bringt man uns in einem Hotel unter. Verlassen dürfen wir es nicht.
Die Opel-Karawane zieht weiter
Am nächsten Tag zieht unsere Opel-Karawane weiter nach Quetta, um dort das „NOC“ zu bekommen, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung, die man braucht, um Belutschistan wieder zu verlassen. Dort wird auch vermerkt, welche Straße wir zu nehmen haben: die kürzeste Strecke durch Belutschistan über Jacopabad und Shikapur. Tatsächlich führt uns die Eskorte aber durch Kudzar: Das ist zwar die kürzeste Strecke nach Karatschi, bedeutet aber, dass wir noch zwei Tage mit unseren Wächtern in Belutschistan bleiben. Es ist ein besonderes Erlebnis, eskortiert zu werden. Uns war so etwas noch passiert. Es ist aber auch lästig, da wir nirgendwo alleine campen dürfen.
Am ersten Tag schaffen wir es bis kurz hinter Kudzar. Während der Fahrt werden wir kontinuierlich von Sicherheitskräften begleitet, die jedoch immer einen Sicherheitsabstand einhalten. Manchmal sind sie sogar für mehrere Stunden gar nicht zu sehen. Gegen halb fünf schaue ich wieder in den Rückspiegel, und wieder ist der uns schon vertraute LEVIS Jeep nicht zu sehen. Ich schlage meiner Frau vor, dass wir es wagen und unser Zelt unter freiem Himmel aufschlagen sollten. Sie ist einverstanden. Wir biegen auf einen unbefestigten Weg ab und fahren in die Nähe eines kleinen Dorfes, um dort unser Nachtlager aufzuschlagen. Es dauert keine halbe Stunde, und der LEVIS Jeep taucht auf.
Wir werden von Soldaten umringt. Die Anweisung ist eindeutig: Wir sollen nach Kudzar zurückfahren. Diskutieren ist zwecklos. In Kudzar angekommen werden wir zu einem erstaunlich schicken Gebäude gebracht. Wir sollen hier übernachten und sind erstaunt: Diese Raststätte ist besser als jedes Hotel, in dem wir bisher übernachtet haben: Es gibt heißes Wasser, bequeme Betten und sogar einen Flachbildschirm! Wir sind auf Wunsch unserer Begleiter hier, des Mannes mit dem LEVIS Jeep, der pakistanischen Regierung, der Polizei und der anderen Sicherheitskräfte. Auch das ist Gastfreundschaft.
Kapitel 5: Welcome to India!
Nachdem wir Belutschistan hinter uns gelassen haben, sind wir auf uns alleine gestellt. Wir fahren weiter nach Karatschi, die größte Stadt Pakistans mit unglaublichen 13 Millionen Einwohnern. Von dort aus geht es weiter in Richtung Grenze nach Hyderabad, mit knapp 3,5 Millionen Einwohnern die drittgrößte und obendrein am schnellsten wachsende Stadt des Landes. Am nächsten Morgen statten wir dem Fluss Indus einen Besuch ab, bevor wir in Richtung Lahore weiterfahren. Die Straße teilen wir uns mit zahllosen Container-Lastwagen. Die Eskorte ist eigentlich nur in Belutschistan Pflicht, war uns gesagt worden. Jetzt sind wir in Sindh, und dennoch haben wir nach der letzten Übernachtung in der Nähe von Heyderabad wieder eine Polizeieskorte, die uns nicht aus den Augen lässt. Eingefädelt wurde dies von dem Polizisten, in dessen Haus wir die letzte Nacht verbracht hatten. Als wir in dem kleinen Städtchen Gotki ankommen, haben wir genug von den ständigen Spielereien der Polizei. Aber es hilft nichts: Tags darauf werden wir aus der Stadt eskortiert, bevor man uns dann endgültig uns selbst überlässt. Die beiden letzten Nächte in Pakistan campen wir in Dörfern in Punjab auf Schulhöfen. Tagsüber durchstreifen wir Rosen- und Zuckerrohrfelder und schließen neue Freundschaften. Auf der letzten Etappe zur pakistanisch-indischen Grenze verfahren wir uns, kommen aber durch viel Glück noch rechtzeitig zur Grenze – eine Stunde, bevor sie geschlossen wird. Wir werden ziemlich problemlos durchgelassen.
Wir haben es geschafft! Wir sind tatsächlich in Indien! Erst einmal in Indien angekommen, verlieren wir keine Zeit und fahren direkt zum Ziel unserer Reise: nach Navsari, wo unsere Freunde wohnen. Während der ganzen Reise hatten wir keinen einzigen wirklichen Unfall.
Ein Crashkurs im Autofahren
Unser alter Opel Rekord ist gelaufen wie geschmiert, und er tut es auch heute noch. Ich plane, ihn entweder alleine oder zusammen mit einem Freund wieder zurück nach Bulgarien zu bringen und auf dem Weg dahin noch ein paar abgeschiedene Orte zu besuchen, die wir dieses Mal nicht erreichen konnten. Vorher aber werden wir gemeinsam nach Bulgarien zurückkehren – mit dem Flugzeug, und zu dritt! Denn am 10. Januar 2017 ist unsere Tochter Samira in Navsari zur Welt gekommen. Es war eine wundervolle Reise durch Länder, die man normalerweise nicht besucht. Und es war ein Crashkurs im Autofahren, jedoch anders, als man denken würde: Zwischen der Türkei und Indien lernt man, wie man ein schlechter Autofahrer wird.
Wir haben es geschafft!
Wir sind tatsächlich in Indien!
Text und Fotos: Vladimir Harizanov
Vladimir Harizanov wurde 1971 in Kardzhali im Süden Bulgariens geboren. Er studierte Elektrotechnik in Sofia und bereiste die Welt. Mit seiner Frau Sabina, einer studierten Psychologin, lebte er zunächst in Bamberg, in Thüringen und dann in der Nähe von München. 2016 entschieden sich die beiden, ihr Leben umzukrempeln und als Freiwillige nach Indien zu gehen. Vor zehn Jahren war Harizanov bereits von Bulgarien aus mit dem Fahrrad nach Indien gefahren. Dieses Erlebnis hat er in seinem englischsprachigen E-Book „Eastwards, towards India at 15km/h“ festgehalten. Weitere Fotos von Vladimir Harizanov finden sich hier.